Der Sohn des Deutschländers. Felizia Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Felizia Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748591658
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kleine, verschmutzte Hinterteil. Dann hob sie Manuel aus der Wanne, legte mit der freien Hand eine frische Windel aus Baumwollstoff im Gras zurecht und wickelte ihn geschickt darin ein. Darüber zog nur ein kleines Höschen und lieβ den Kleinen mit einem Holzspielzeug im Gras sitzen. Tief durchatmend drehte sie sich zu Arthurs Vater um.

      Sie lächelte nicht. Seit vorgestern Abend hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.

      Er schluckte. Sein spanischer Wortschatz war zwar in den vergangenen drei Wochen dank Luisa so weit angewachsen, dass er einige elementare Ausdrucksformen beherrschte, jetzt wollte ihm jedoch nichts Passendes einfallen. Plötzlich schienen alle unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen zu stehen. Beide wussten, dass es Unausgesprochenes gab. Sekundenlang schauten sie sich in die Augen.

      „Verflixt bist du schön!“, sagte er schlieβlich auf Deutsch und musste lachen. Sie stimmte erleichtert ein.

      Wozu über Dinge reden, die nur in meinem Kopf existiert haben, sagte er sich und reichte Luisa die Hand.

      „Danke für alles, und bitte kümmere dich weiter so nett um meinen Kleinen.“

      „Mach dir keine Sorgen. Maria Celeste wird ihn sowieso keinen Augenblick aus den Augen lassen“, sagte sie lachend. Dann umarmte sie ihn, küsste seine Wangen und flüsterte: „Adiós“.

      Arthurs Vater hatte sehr wohl bemerkt, dass sie dabei einen Seitenblick auf das Küchenfenster warf. Und ihm war sehr wohl bewusst, dass Justina beim Abwaschen einen freien Blick in den Garten hatte.

      Luisa begleitete ihn an das Tor. Dort waren Christa und Julius Deisenhofer sowie Miguel und Adalberto bereits dabei, ihr Gepäck auf der relativ kleinen Ladepritsche der „Camioneta“ zu verstauen. Dicht daneben auf der Mauer hockten Arthur und Maria Celeste und alberten fröhlich herum.

      Er küsste beide Kinder auf die Wangen, dann hob er seine Reisetasche mit Schwung auf den Wagen. Die Unternehmungslust stand ihm deutlich im Gesicht, als er in Deisenhofers staubigen Ford Pick-up stieg.

      Die geschlossene Kabine des wuchtigen Wagens bot Platz für vier oder fünf Leute, jedoch würden nur die Deisenhofers und Arthurs Vater vorn sitzen. Die beiden Arbeiter Miguel und Adalberto kletterten auf die offene Pritsche.

      Die Kinder winkten noch, als das Auto längst um die Straβenecke gebogen war. Und auch Luisa stand noch lange gedankenversunken an der Straβe. Sie dachte über Arthurs Vater nach. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Obwohl sie die Nacht vor Deisenhofers Ankunft mit einem der Arbeiter verbracht hatte, zeigte er kein bisschen Eifersucht. Er schien allenfalls peinlich berührt gewesen zu sein. Die Gleichgültigkeit, die er in den vergangenen Wochen vor ihr an den Tag gelegt hatte, war vielleicht doch echt gewesen. Selbst wenn sie abends im luftigen Nachthemd an ihm vorübergegangen war, hatte er nie Anstalten gemacht, sich ihr zu nähern. Natürlich hatte sie bemerkt, dass es ihn nicht völlig kalt gelassen hatte, wenn sie in seiner Nähe war, dennoch hatte er nie einen Finger gerührt, um sie zu erobern. Auf der einen Seite schien sie ihm zu gefallen, auf der anderen Seite zeigte er kein Interesse für sie.

      Es kam ihr nicht in den Sinn, dass es Männer geben könnte, die sich von einer Frau etwas anderes wünschen, als ein wenig Koketterie, Erotik und blanken Sex.

      Hiermit gelange ich an den Punkt, wo ich versuchen will, Luisas Einstellung zu Männern begreifbar zu machen.

      Vorweg sei erwähnt, dass das Leben in der ländlichen Gegend, der „Campaña“, wo Luisa ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, kaum etwas mit der Lebensweise in der Hauptstadt gemeinsam hatte. Dort im Landesinneren schien die Zeit still zu stehen. Was heute nicht erledigt werden konnte, wurde mit einem Achselzucken auf morgen verschoben. „Mañana“, morgen, ist wohl deshalb noch heute eine äuβerst wichtige Vokabel im Wortschatz der Leute vom Land. Es ist aber, meiner Meinung nach, falsch, diese Einstellung bei allen mit Trägheit gleichzusetzen. Schicksalsergebene Gelassenheit trifft wohl eher den Sinn des Wortes.

      Auch hatten sich die Lebensgewohnheiten über Jahrzehnte hinweg kaum verändert. Die Schulbildung der Landbevölkerung war, wenn sie denn überhaupt stattfand, meist abgeschlossen, sobald ein Kind leidlich lesen und schreiben, Zahlen zu addieren und subtrahieren verstand und sämtliche Helden der paraguayischen Geschichte aufzählen konnte.

      Ebenso erstarrt schienen die Familienstrukturen, insbesondere das Verhalten der Männer. In der Welt, in der Luisa aufgewachsen war, gab es Frauen, Kinder und Machos. Der Ausdruck Macho ist hier in all seiner Härte und Klischeehaftigkeit zu verstehen.

      Für die Frauen in ihrem Umfeld hatte stets gegolten: setzte deine weiblichen Reize ein, dann schaffst du es vielleicht, wenigstens zeitweise von einem Mann versorgt zu werden! Danach sollten genügend Kinder da sein, die für dich sorgen können. Die eheliche, lebenslange Bindung zweier Menschen wurde zwar als hehres Ziel angestrebt und manchmal vorgetäuscht, jedoch sei jede Frau, die darauf baue, ihr Leben lang für ein und denselben Mann an erster Stelle zu stehen, letzten Endes eine arme Verliererin. Natürlich war Luisas Vater bis zu seinem Tod immer wieder bei seiner Frau und Familie gewesen, jedoch war sich Luisas Mutter durchaus bewusst, dass sie zwar seine rechtmäβige Gattin, keineswegs aber seine einzige Frau war. Genauso wenig wie ihre Kinder seine einzigen Nachkommen waren.

      Wie jedes Kind von einfachen Landarbeitern hatte Luisa es für eine Selbstverständlichkeit gehalten, dass die Familie sich um die Mutter anordnet. Sie führte den Haushalt an. Der Vater war manchmal da, galt zu diesen Zeiten auch unangefochten als „Hahn im Korb“, von der Frau hofiert, von den Kindern bedient, jedoch machte er, solange er jung und kräftig war, keinen Hehl daraus, dass ihm auch andere Körbe offen standen. Eine Frau wie Luisa hatte sich schon als Kind damit abzufinden, dass sie eben „nur“ als Frau auf die Welt gekommen war. Jedoch konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie sehr hübsch war. Eine Tatsache, die als „himmlische Mitgift“ gesehen wurde und im Idealfall ihre Zukunft sichern konnte.

      Diese sozialen Strukturen hatte Luisa als Kind natürlich nicht durchschaut. Sie war ein fröhliches Kind gewesen, ging am Morgen fast immer gut gelaunt in die Schule und kehrte am Mittag meist singend oder im Rudel gleichaltriger Kinder herumalbernd wieder nach Hause in das windschiefe Häuschen, das Ranchito zurück. Dieses Ranchito war nicht mehr als eine Hütte aus dicht nebeneinander gesetzten Palmenstämmen. Das Dach bestand aus Stroh und bei Regen tropfte es fast immer irgendwo herein. Bei trockenem, warmem Wetter spielte sich das gesamte Leben drauβen ab: Über einer Feuerstelle hing ein schwerer Kochtopf aus Gusseisen, unter den Bäumen stand der Esstisch mit einigen Stühlen und am nicht weit entfernten Bach wurde die Wäsche gewaschen sowie das Geschirr gespült. Nachdem die Familie immer weiter angewachsen war, wurde eine zweite, recht kleine Hütte für Luisa und ihre Schwester gebaut.

      Hausaufgaben für die Schule musste Luisa eigentlich nie machen, denn die Lehrer wussten, dass es in den meisten Familien keinen Platz dafür gab. Sie hütete am Nachmittag fast immer die kleinen Geschwister, während die Mutter beim Wäschewaschen war oder das Abendessen kochte. Manchmal musste sie auch bei der Arbeit auf dem Maniok-Feld mithelfen.

      Ihre Welt war in heiler Ordnung. Selbst die immer wiederkehrenden, lautstarken Streitereien der Eltern hatten irgendwann ihre Bedrohlichkeit für das Mädchen verloren, auch wenn der Vater nach solchen Kämpfen oft für eine Zeitlang verschwand. Früher oder später kehrte er ja doch immer zu ihnen zurück. Manchmal war er nach seiner Heimkehr ins heimische Nest überaus freundlich und brachte Geschenke für Luisa und ihre Geschwister mit, manchmal kam er aber auch abgemagert, schlecht gelaunt und wortkarg nach Hause.

      Luisa war gerade zwölf Jahre alt und ihre sprieβende Weiblichkeit lieβ schon erahnen, dass sie versprach, eine Schönheit zu werden. Noch vor ihrer ersten Menstruation wurde sie zum ersten Mal vergewaltigt. Was ich über diese Geschichte weiβ, hatte Luisa ihrer Tochter Maria Celeste erzählt, dabei aber nie das Wort Vergewaltigung in den Mund genommen. Und Maria Celeste hat viele Jahre später mit Arthur über das gesprochen, was sie von ihrer Mutter gehört hatte.

      Arthur und ich haben oft über die eigentümliche Gesellschaftsform des Landes diskutiert. Einerseits erkennt man deutlich matriarchalische Strukturen in den Familien, andererseits ist die machohafte Haltung