Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser. Mario Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847649632
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als ich eine Stunde zu spät das rot verputzte Gebäude der Krankenkasse betrat. Ich grüßte den Pförtner mit einem Kopfnicken und fuhr mit dem Fahrstuhl in die vierte Etage. Auf dem Gang traf ich den Bürovorsteher: „Guten Morgen, Mister Salomon, ich werde die Stunde nacharbeiten.“

      „Schon gut, schon gut.“

      Auf meinem Arbeitsplatz lag noch ein Stapel unerledigter

      Veränderungsmitteilungen und gleich würde der Bote einen neuen bringen. Aber mehr als das tägliche Pensum von 9 bis 15 Uhr hielt ich einfach nicht aus. Dazu verbrachte ich die meiste Zeit mit dösen. Wozu sollte ich mich auch anstrengen? Mein Gehalt war mir sicher, denn wir wurden nicht nach Leistung bezahlt. Manchmal zischte Lili: „Pedro, Mister Salomon“, dann stürzte ich mich für ein paar Minuten in die Arbeit und setzte, sowie er vorüber war, mein Nichtstun fort. Meistens aber ging ich in der Mittagspause von Tisch zu Tisch und mischte den Kollegen meine Arbeiten unter oder ich spülte sie einfach in der Toilette runter. Wenn Lili fertig war, spielten wir „Vier gewinnt“ oder Rommé. In „Rommé“ hatte sie keine Chance.

      Lili musterte mich von oben bis unten, als sie mich kommen sah. „Du holst dir noch eine Erkältung? Soll ich dir einen Tee machen?“

      „Danke, aber ich muss mit dir reden“, antwortete ich und entdeckte, dass ich eine feuchte Spur, auf dem billigen Teppichboden, hinterlassen hatte.

      „Klar, du kannst mit mir über alles reden.“

      „Ich habe vor einer Woche einen Allergietest gemacht und du darfst das jetzt auf gar keinen Fall persönlich nehmen“. Ich machte eine lange bedeutungsvolle Pause. „Ich habe eine Katzenallergie und deshalb halte ich es hier nicht mehr aus. Verstehst du, wegen deines Katers halte ich es hier einfach nicht mehr aus.“

      „Aber er war doch nur einmal hier!“

      „Einmal war eben schon einmal zu viel!“

      „Das tut mir so leid“, sagte sie und wendete sich wieder ihren Karteikarten zu. Sie ging einfach so zur Tagesordnung über? Ich hatte mir schon eine stärkere Entschuldigung gewünscht. Wenigstens hätte sie einen Teil meiner Arbeit übernehmen können.

      „Pedro“, sagte sie und zog mich völlig unerwartet mit meinem Drehstuhl zu sich heran: „ich habe für alles Verständnis, du kannst mit mir über alles reden. Wenn du ein Problem hast, sprich mit mir, denn dass du etwas auf dem Herzen hast, das sieht man dir doch an.“

      Ich wendete meinen Kopf ab, denn normalerweise hätte ich ihr für diese Frechheit meine Zähne gezeigt, instinktmäßig zur Abschreckung, aber sie roch irgendwie angenehm. Sie roch nach einer Blume, überlegte ich und schnupperte unwillkürlich an ihrem Busen.

      „Du bist ja komisch“, sagte sie und drehte mich kurz hin und her.

      Sie roch nach einer Blume, die bei uns im Busch wächst und nach der auch meine Mutter roch. Ganz unwillkürlich legte ich meinen Kopf an ihren Busen.

      „Aber das geht doch nicht. Nicht hier im Büro.“

      „Vielleicht sollten wir uns einmal auf einen Drink verabreden?“ schlug ich vor. „Wir arbeiten schon so lange zusammen und kennen uns noch kein bisschen.“

      Punkt 15 Uhr saß ich in dem chinesischen Imbiss gegenüber der Tierhandlung. Ich hatte das Büro eine Stunde früher verlassen. „Wichtige Erledigungen!“ hatte ich Mister Salomon zugerufen. Für heute war die Sklaverei beendet. Ich bestellte mir eine Glasnudelsuppe. Wie konnte ich am Computer sitzen, während Sue gefangen war? Hinter der Eingangstür klemmte ein Schild „Open.“ Licht war im Geschäft wie üblich nicht zu sehen. Wahrscheinlich schlief Hawkins in seinem Sessel. War jetzt die Gelegenheit gekommen, sie zu befreien? Ein Held zu werden? Unsterblich zu werden? Aber Helden leben bekanntlich nicht allzu lange und was, wenn sie gar nicht mitkommen wollte oder schon längst verkauft worden war? Wenn sie sich wehrte und um Hilfe schrie? Schließlich hatte sie sich mit dem Fremden prima verstanden. „A Clockwork Orange ist auch mein Lieblingsfilm“, hatte sie gesagt und mich ignoriert. Zuerst einmal würde ich meine Suppe essen und dann weitersehen.

      Ein Blitz zuckte durch die Wolkendecke, dass ich zusammenfuhr und wenn Hawkins recht haben sollte, meine Lebenserwartung rapide sank. Der Verkäufer sagte: „Keine Angst mein Herr, wir haben Blitzableiter.“

      Da war sie wieder, die menschliche Arroganz, die Machtdemonstration. „Wir haben Blitzableiter.“ Ich klammerte mich an meinem Stuhl. „Ganz ruhig Pedro, ganz ruhig. Es ist nichts als ein Gewitter. Auch Menschen haben Angst vor Gewittern“, sprach ich zu mir selbst. Es blitzte wieder. Ich zitterte am ganzen Körper, rutschte von meinem Stuhl herunter und nahm unter dem Tisch Deckung.

      „Sie haben große Angst.“

      „Nein, hab ich nicht.“

      Schon zuckte der nächste Blitz auf. Ich durfte aber nicht unter dem Tisch hocken bleiben und versuchte aufzustehen, versuchte halbwegs normal zu wirken, lässig das Gewitter zu betrachten und dabei entspannt zu essen. Ich umschloss die Schüssel, aber meine Hände zitterten so, dass ich den Inhalt verschüttete. Leck jetzt bloß nicht die Suppe auf, befahl ich mir. Dann der ohrenbetäubende Donner. Ich nahm den Löffel und versuchte so ruhig wie möglich, den Rest der Suppe zu verzehren. Der Verkäufer hinter seinem Tresen beobachtete mich, das konnte ich spüren. Wir Primaten fassen solch ein Angestarrtwerden als Bedrohung auf, und genau das war es auch, da gab ich mich keiner Illusion hin. Noch ein paar Minuten Blitz und Donner und der Verkäufer würde mich gefangen nehmen und mir das Fell abziehen - schließlich galt ich bei seinem Volk als Delikatesse.

      So wie der nächste Blitz aufzuckte, zuckte auch ich zusammen und stieß dabei die Schüssel um. Ich sprang auf, und mit einem Satz war ich bei dem aufdringlichen Verkäufer. Was er mich so anglotze, schrie ich ihn an. Er solle sich gefälligst um seinen Job kümmern und seine Gäste in Ruhe lassen. Er verschwand, kam mit Eimer und Lappen zurück und wischte den Boden auf.

      Ich hatte meine Angst besiegt und einen Menschen in die Flucht geschlagen. Ich verließ den Imbiss, lief durch den einsetzenden Regen und begann von Gehwegplatte zu Gehwegplatte zu hüpfen. Dancing in the rain, sang ich vor mich hin und betrat eine Telefonzelle. Musste ich jetzt noch Angst vor Hawkins haben? Ich sollte den Laden mal ein bisschen auseinandernehmen, auf den Kopf stellen. Es würde sicher so einiges an illegalen Machenschaften dabei herauskommen.

      Ich hob ab und rief ihn an.

      „Thatcher und Hawkins.“

      Ich sei auf der Suche nach etwas Ausgefallenem, sprach ich, „Hätten Sie nicht einen Bewohner der Regenwälder, ein seltenes Exemplar, irgendwie eine schillernde Persönlichkeit?“

      „Eine Persönlichkeit? Hm, ich könnte Ihnen ein paar Meerschweinchen anbieten. Fische und Kanarienvögel haben wir natürlich auch, alles erstklassige Ware.“

      „Fische und Kanarienvögel interessieren mich nicht!“

      In welche Richtung denn mein Interesse ginge, erkundigte er sich.

      Ich sei auf dem Gebiet der Verhaltensforschung tätig und auf der Suche nach einer Gefährtin, einer Freundin.

      Hawkins schwieg.

      Ob er eine Äffin im Angebot habe?

      „Nein Sir, ich bin doch keine Partnervermittlung. Das Artenschutzgesetz erlaubt den Handel mit Primaten auch nicht mehr. Ja früher, das waren noch Zeiten!“ sagte er und kicherte, „aber diese Zeiten sind vorbei!“

      Sollte ich diesem Lügner nicht die Tierschützer auf den Hals hetzen? Aber wenn Sue noch im Geschäft war, würden die sie zwar befreien, aber wiedersehen würde ich sie dann garantiert nicht mehr, denn Tierschutz bedeutete im besten Fall, dass sie zurück geschickt wurde.

      „Kann ich noch etwas für sie tun?“

      „Danke“, antworte ich und hängte ein, als ich- der verfluchte Schrecken fuhr mir in die Glieder und kostete mich schon wieder ein Jahr Lebenszeit- den Staffordshire Bullterrier sah. Schnüffelnd, die Nase dicht über dem Trottoir, lief er direkt auf mich zu. Er hatte doch nicht etwa meine Witterung aufgenommen?