Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser. Mario Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847649632
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      „Ich verstehe nicht ganz!“

      „Die Primatin, dort hinten im Käfig. Ist sie noch hier?“

      „Ach so. Nein, sie ist leider abgereist.“

      „Machen Sie doch keine Witze.“

      „Es war ihre freie Entscheidung, ich habe sie nicht gezwungen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, ich bin gleich zurück, ich muss nur kurz telefonieren.“

      „Warten Sie“, rief ich ihm nach und musste schon wieder Husten, „Sie brauchen die Polizei nicht zu verständigen, sie brauchen mich auch nicht einzufangen, zu betäuben oder sonst wie kampfunfähig zu machen, denn ich mache Ihnen ein Angebot, das Ihnen gefallen dürfte.“

      Helmut

      Diese Faxenmacher vom Dienst! Ich will jetzt keine Namen nennen, die sammeln in der Pause Spenden dafür, dass wir auch im Winter etwas zu essen haben, und wenn die sehen, da hat einer einen ganz dicken Geldbeutel, dann setzt sich die Eine auf den Schoß und schneidet ein paar Grimassen, dass sich das Publikum krümmt vor Lachen, und dann kommt der Andere und schäkert noch ein wenig, und schon ist der Geldbeutel weg. Vorne am Entrée hat Pickel ein Schild angebracht, „Vorsicht Taschendiebe“, nützt aber nichts, denn die teilen durch drei! Ich schaue da weg. Man will ja nicht zum Außenseiter werden.

      Gefahr lag in der Luft. Sokrates klapperte nervös mit dem Schnabel und stieg von einem Bein auf das andere. Meistens steht er stundenlang auf einem Bein, und wenn ihm etwas Wichtiges einfällt, wechselt er es gemächlich, macht sich ein paar Notizen, um später mit Moma darüber diskutieren zu können. Er ist der Einzige, der noch mit Moma spricht. Einmal wöchentlich treffen sie sich, offiziell zur Therapie, aber in Wirklichkeit diskutieren sie nur über seine Notizen.

      Sue begann aufgeregt zu hüpfen. Pascha peitschte mit seinem Schwanz den Sand. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Normalerweise sitzt er träge auf seinem Hocker und macht alles, was von ihm verlangt wird.

      Es war wohl was Elektrisches. Ein Kabel schmorte oder ein Scheinwerfer brannte durch. Noch konnte man es nicht riechen, aber die Gefahr spürten wir alle, bis auf die Menschen natürlich. Sokrates flog über das Gitter in den Raubtierkäfig und zog Pickel am Ärmel. Der hatte aber keine Zeit für ihn, weil er Pascha dazu bringen wollte, durch einen Reifen zu springen. Ahnte er denn nichts? Sah er denn nicht, wie Pascha den Sand peitschte? Sokrates klapperte mit dem Schnabel. Vergeblich. Dann zwickte er Pickel ins Bein.

      „Was soll denn das?“ schrie der auf, „verdammtes Biest!“

      Jetzt schien Pascha die Nerven zu verlieren. Er brüllte auf, dass es mir eiskalt den Rücken herunterlief, sprang von seinem Hocker und lief aufgeregt durch den Sand. Eilig verließ Pickel den Käfig und verriegelte die Tür. Rauch stieg aus einem Scheinwerfer auf. Hatte ich es nicht gesagt? Es musste etwas Elektrisches sein. Schon züngelten die ersten Flammen hervor und erfassten einen herunterhängenden Stofffetzen. Wie kam der eigentlich da hin? Da hatte wohl jemand seine Arbeit nicht richtig gemacht? Die Flammen züngelten am Stofffetzen entlang, erfassten die Zirkuskuppel und im Nu brannte das Zelt lichterloh.

      Pascha brüllte noch einmal, dass mir das Blut in den Adern gefror. Dem möchte ich in freier Wildbahn nicht begegnet sein.

      „Ruhe bewahren, wir schalten sofort den Strom ab!“ rief Pickel.

      Zu spät, alles stürzte den Ausgängen zu. Nicole nutzte die Panik für einen Ausflug, sie hatte doch schon immer von einem Schaufensterbummel geträumt und das war ihre Chance. Am nächsten Tag stand es in der Zeitung: „Sau in den Mannheimer Planken“, dazu ein Foto, wie sie sich in einer Blumenrabatte wälzte. Alle waren neidisch auf sie. Mir aber wäre eine solche Schlagzeile peinlich gewesen. Wenn sie sich so aufführen, liefern sie den Menschen doch nur die Argumente dafür, dass sie später einmal, wenn man sie nicht mehr braucht, so mir nichts dir nichts, ab zum Abdecker.

      „Wer hat mich denn gefragt, ob ich die Kutsche ziehen will?“ hab’ ich zu ihr gesagt. „Gut, das Publikum will etwas Neues sehen“, hab’ ich gesagt, „Minusrechnung kann ich nicht, dann zieh ich eben die Kutsche. Glaubst du, mir macht das Spaß?“

      Also, wenn ich etwas zu sagen hätte, dann ließe ich sie verheiraten. Jawohl, Zwangsverheiraten. Wer hat denn meine Mutter gefragt, ob sie sich mit meinem Vater einlassen wollte? Mein Vater war ein besonders kräftiges Pferd, denn früher, als es noch keine LKW gab, musste er tagein, tagaus die schwersten Wagen ziehen und die Wirtshäuser mit Bier und Limonade beliefern. Daher hab’ ich auch meine kräftige Statur.

      Mein Vater wurde zu meiner Mutter geführt, niemand hat sie danach gefragt und was dabei herausgekommen ist, kann sich durchaus sehen lassen.

      Der Philosoph Nietzsche soll sich aus Mitgefühl an die Brust einer meiner Urgroßväter geworfen haben, als dieser von einem Kutscher ausgepeitscht wurde, weil er alt war und die schwere Last nicht mehr ziehen konnte. Der Philosoph weinte am Hals meines Ahnherren und kam daraufhin in die Klapse.

      Mütterlicherseits waren meine Vorfahren Reitpferde. Meine Urgroßmutter Tora gewann bei den Olympischen Spielen 1936, Gold im Springreiten.

      1945 wurde sie zum Pflügen eingesetzt, lief auf eine Mine und verlor einen Huf. Der Bauer büßte nur einen Teil seines Augenlichts ein und wurde jahrelang gepflegt. Meine Großmama aber wurde erschossen und aufgegessen.

      Heutzutage wissen die meisten ja gar nicht mehr, was richtige Arbeit ist. Welcher Kollege musste sich schon sein Essen selbst suchen oder Beute machen? Furchtbarer Gedanke, seinen Kiefer in einen fremden Nacken beißen zu müssen und das warme Blut zu trinken. Für mich als Vegetarier sowieso unvorstellbar. Da wir einmal während einer Tournee, in einem gleich neben dem Zirkus liegenden Freiluftkino, einen Film sahen, in dem ein Löwenrudel eine Antilope hetzte, ihr das Genick brach, die Eingeweide und das rohe Fleisch verschlang, hielt Pascha der Löwe, sich die Augen zu und sagte, er müsse sich sonst übergeben.

      Doch zurück zur Feuersbrunst: Die Flammen prasselten aus dem Scheinwerfer und das Zelt stand in Flammen. Eigentlich ist das kein Problem. Das Einzige, was passieren kann, ist, dass Sie so einen Fetzen Zeltplane abbekommen. Na und, dann schütteln Sie sich und treten den qualmenden Fetzen im Sand aus. Einmal im Monat ist Arbeits- und Brandschutzbelehrung. Das heißt, früher war das so, als noch Bühnenarbeiter, Beleuchter, Dompteure, Artisten, Pfleger und was weiß ich nicht noch alles am Zirkus beschäftigt waren. Einmal im Monat trafen sich alle Mitarbeiter zur Arbeits- und Brandschutzbelehrung und wir nicht menschlichen Mitarbeiter hörten zu. Das heißt, ein Kollege wurde geschickt und erzählte es den anderen weiter. Alle Mitarbeiter saßen in der Kantine, ich stand davor, schabte mein Fell am Kantinenwagen und hörte, dass, wenn ein Feuer ausbricht, Ruhe bewahren die erste Mitarbeiterpflicht ist. Anschließend lief ich zurück und hab’ es allen weitererzählt. Versprochen!

      Doch was tat Pascha? In Panik sprang er über das Gitter und flüchtete Richtung Entrée, mitten hinein in das, ins Freie strömende, Publikum. Das Publikum kreischte auf, stob auseinander und schon stolperte der Erste, und der Zweite stolperte über den Ersten, und der Dritte über den Zweiten, und so weiter und so weiter. Schreie, Entsetzen, die Hinteren schoben nach. Der Instinkt der Herde, sage ich nur. Ob Mensch oder nicht, bei Feuer fliehen wir.

      Pickel zog eiskalt die Pistole und erschoss Pascha, den legendären König Pascha! Den Star des Staatszirkusses der DDR. In über achtzig Ländern der Welt war er durch Film und Fernsehen bekannt. Pickel schnallt sich vor jeder Vorstellung ein Pistolenhalfter um, und läuft damit lässig durch die Stallungen, seht her, soll das wohl heißen, ich habe die Macht.

      Über mir brannte die Zirkuskuppel, na und? Der gute alte Helmut blieb wie angewurzelt stehen und rührte sich nicht. Ruhe bewahren ist die erste Mitarbeiterpflicht! Ich habe ein gutes Gedächtnis!

      Dann kam sie, Miss Lulu, die Trapezkünstlerin. Ich kann Ihnen sagen, das ist eine wirkliche Künstlerin. Selbst am Staatszirkus hatten wir so eine nicht. Sie schnalzte mir zu, und ich folgte ihr trabend. Sie gab mir ein paar Nüsse, brachte mich in den Stall und nahm mir das Geschirr ab. Dann bürstete sie mich und kratzte meine Hufe aus. Was