Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser. Mario Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847649632
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und gab einer Coladose einen Kick, sodass sie scheppernd über den Gehsteig flog. Wenn ich ein Mensch wäre, würde ich jetzt den Helden spielen und versuchen, sie zu befreien. In einem Gemüseladen kaufte ich mir einen Salatkopf und während ich den Weg fortsetzte, stopfte ich mir ein Blatt nach dem anderen in den Mund. Jeder ist sich selbst der Nächste, diese Lektion hatte ich noch zu lernen. Außerdem hatte sie sich mit dem Fremden prima verstanden. „Mein Lieblingsfilm ist ‚Clockwork Orange’. Darf ich dich Lolita nennen? Aber natürlich.“ Sie würde schon sehen, was sie davon hatte.

      Ärgerlich trat ich einem Mann in den Absatz. Er stolperte, so dass sein Hut auf den Gehweg fiel. Schnell hob er ihn auf und sah mich an. Ich hatte jedoch überhaupt keine Lust, mich zu entschuldigen und zeigte ihm stattdessen den Scheibenwischer. Kopfschüttelnd ging er weiter. Wollte er sich denn gar nicht ärgern? Warum tat er mir nicht den Gefallen? Ich lief ihm nach und trat noch einmal zu. Er drehte sich um und drohte mir erbost mit der Faust. „Get lost“, rief ich, was verpiss dich heißt und in England ein ziemlich übles Schimpfwort ist. Ich lief in die Old Street Richtung Hackney Road, als sich mir ein Staffordshire Bullterrier in den Weg stellte und mich anbellte. Er war über und über mit Narben bedeckt.

      Er bellte ziemlich aggressiv und völlig unverständliches Zeug, weil er ja nicht wissen konnte, dass ich ganz gut Hund sprach.

      Was er von mir wolle? fragte ich.

      „Wuff“, ich könne Hund? fragte er.

      „Wuff, ja.“

      „Das ist ja mal eine Überraschung. Wie ist denn dein Name, wuff?“

      „Pedro. Sonst noch Fragen?“

      „Eine noch. Nur noch eine Frage. Mein Herr hat mir ‚Fass’ aufgetragen, dich zu beißen, und ich hätte auch große Lust dazu, aber du bist doch kein Mensch, sondern ein Affe, wenn ich mich nicht irre, noch dazu einer, der einen Denkzettel ganz gut gebrauchen könnte. Was würdest du denn dazu sagen, wenn ich dich dem nächsten Polizisten übergeben würde? Affen gehören doch in den Zoo, oder? Wuff!“

      „Ich, ich bin ein Primat! Damit das mal klar ist. Und zweitens würde ich mir das an deiner Stelle noch einmal überlegen.“ Grinsend zog er seinen Mund breit.

      Ich musste auf der Hut sein, denn ich hatte es ganz offensichtlich mit einem gerissenen Burschen zu tun.

      „Und was passiert mit freilaufenden Hunden?“ antwortete ich. „Werden die nicht ins Heim gesperrt?“

      „Mir doch egal. Vorher mache ich einen Primaten fertig“, knurrte er.

      „Du kennst doch die Fleischerei in der Gosset Street?“ fragte ich.

      „Klar man“, antwortete er, „wer kennt die nicht?“

      „Wenn du mich laufen lässt, erfülle ich dir jeden Wunsch. Du kannst aus der Fleischerei haben, was du willst, wuff.“

      „Wirklich jeden Wunsch?“

      „Wirklich! Ehrenwort, wuff!“

      „Dann, dann hätte ich gerne ein Kilo Roastbeef, so wie mein Herr welches frisst. Oder besser, gleich zwei Kilo, geht das?“

      „Natürlich.“

      Wir liefen weiter die Old Street entlang, bogen in die Gosset ein und kamen an der Tierhandlung vorbei. Ich versuchte einen Blick hineinzuwerfen, aber wie üblich war alles verdunkelt und nichts zu erkennen. Ob er von meinem Salat kosten möchte, fragte ich meinen Begleiter.

      „Red keinen Quatsch“, fuhr er mich an, „ich mag doch keinen Salat.“

      Wir näherten uns einer Bushaltestelle. Die Schirme aufgespannt, standen die Menschen wie eine Perlenkette aufgereiht und warteten auf den Bus. Diszipliniertes Volk. Mein Begleiter begann unangenehm zu sabbern.

      Ein Doppeldecker fuhr heran und hielt scharf bremsend an der Haltestelle. Das war meine Chance. Geordnet stiegen die Menschen einer nach dem anderen ein. Der letzte Fahrgast betrat den Bus, jetzt oder nie, dachte ich und schob meinen Kohlkopf wie eine Bowlingkugel in die entgegengesetzte Richtung, der Staffordshire Bullterrier jagte ihr nach, ich sprang, machte einen Satz und noch einen, die Tür schloss sich, ich klemmte mich dazwischen, und schon war ich im Bus. Er fuhr an und schon lief der Köter, den Salat zwischen den Kiefern, neben dem Bus her, bis dieser endlich an einer Kreuzung abbog. Schnell lief ich zum Oberdeck und setzte mich unauffällig. Fast hätte ich laut losgelacht, da hatte er sein Roastbeef. In Zukunft müsste ich vorsichtiger sein, nahm ich mir vor, denn Menschen zu ärgern war doch eine ziemlich gefährliche Angelegenheit. An der nächsten Haltestelle wechselte ich in die Tube und fuhr nach Hause. Ich nahm eine heiße Dusche, putzte mir die Zähne und ging wie ein Mensch zu Bett. Der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos leuchtete mein Zimmer aus. Immer diese Lichtkegel. Ich hatte Hunger und konnte deutlich das Knurren meines Magens hören. Ich stand auf und schaute in den Kühlschrank. Bis auf ein paar welke Salatblätter herrschte gähnende Leere. Ich bestrich sie mit Erdnussbutter, salzte sie ein wenig und verzehrte sie hastig. Ich hatte alle Zeit der Welt, aber ich verschlang mein Essen geradezu. Ich trank ein Glas Wasser und trat ans Fenster. Schwarz glänzend lag die regennasse Straße vor mir. Mein schöner Salatkopf, seufzte ich. Der Regen schien etwas nachzulassen. Genussvoll langsam zu essen, hatte ich verlernt. Wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich langsam zu essen verlernen könne, hätte ich das nicht glauben können, aber die Hektik der Großstadt übertrug sich auf jeden Bereich, auch auf den des Essens. Mittlerweile bestaunte ich meine Verwandten dafür, dass sie den ganzen Tag nur mit der Nahrungsaufnahme und Faulenzen verbringen konnten. Wenn sie nicht schliefen, lagen sie in einer Astgabel und schoben sich eine Frucht nach der anderen in den Mund.

      Hatte ich nicht schon längst Bedürfnisse entwickelt, wie sie im Dschungel unbekannt waren? Müsste ich heute im Busch nicht als komischer Kauz gelten, wenn ich mich ein wenig nach Zivilisation sehnte? Wie würde ein Leben ohne Musik und Bars aussehen? Welche Gespräche wurden denn im Busch geführt?

      Die Regenzeit lässt dieses Jahr aber auf sich warten. Wollen wir nicht einen Ausflug ans Wasserloch machen? Mein Pelz müsste mal wieder geschrubbt werden. Nein, nein, vor der Regenzeit ist das viel zu gefährlich. Nimm lieber noch eine Kokosnuss? Aber gern, mit viel Soda und crunched Eis, bitte. Verständnislos würden sie mich angaffen.

      Ich legte mich wieder auf meine Matratze. Morgen müsste ich in der verhassten Krankenkasse einigermaßen fit sein. Wenigstens einmal wollte ich das Pensum erfüllen. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

      Ob sie schon schlief? Oder schwamm sie womöglich schon als Einlage in einer Suppe?

      Tief ein- und ausatmen, redete ich mir ein. In einer Zeitschrift hatte ich gelesen, dass wenn ich mir nur lang genug „tief ein- und ausatmen“ einreden würde, ich wie von selbst einschliefe.

      Tief ein- und ausatmen, wiederholte ich immer wieder. Autosuggestion nannten sie das.

      Eine leckere Suppe mit Bambussprossen wäre jetzt genau das Richtige. Mein Magen knurrte. Was bin ich doch für ein Geizhals gewesen? Wenn ich sie nur gekauft hätte, könnten wir jetzt in ein hübsches Restaurant gehen. Natürlich müsste sie noch lernen, mit Messer und Gabel zu essen.

      Tief ein- und ausatmen.

      Und wenn ich morgen noch einmal in die Gosset ging? Ich könnte versuchen, sie zu befreien, wenn Hawkins nicht im Geschäft war, oder ihr wenigstens meine Telefonnummer zustecken. Sie würde mich nicht anrufen, wie sollte sie auch, wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, was ein Telefon ist. Die Sache war viel zu gefährlich für mich. Lust auf Labor? Lust auf endlose Versuche, fragte ich mich und drehte mich auf die andere Seite. Tief ein- und ausatmen.

      Hellwach lag ich da. Ja, ich hatte den Eindruck, dass ich durch diese Atemübung, nur noch wacher geworden war.

      Ich stand auf und zog mich an, mit leerem Magen konnte ich einfach nicht einschlafen. Die nassen Schuhe hinterließen auf dem Teppichboden einen feuchten, schmutzigen Fleck. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich nach unten und lief so schnell ich konnte zur Haltestelle Buckhurst Hill. Der Regen wurde nun wieder stärker, und ich erwischte gerade noch die letzte Bahn. Durchnässt fuhr ich zum Trocadero.