Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser. Mario Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847649632
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sie und gab mir eine Rübe. Diese Ruhe, die sie ausstrahlte. Ganz hohe Schule. Dann kraulte sie mir meinen Pony. Ihr pechschwarzes Haar fiel ihr über die Schulter. Ihre Muskeln sind stark und elastisch. Ihre Stimme gleicht der Harfe, die wir früher im Profiorchester hatten. Ich kenne nicht einen Kollegen, der nicht mit ihr zusammenarbeiten wollte.

      Dann gab sie mir einen Klaps auf das Hinterteil, nahm einen Schlauch und half beim Löschen. Die hat vielleicht Nerven! Wegen der anschließenden Aufräumarbeiten musste ich drei Tage in meiner Box verbringen - die Vorstellungen wurden abgesagt- drei lange Tage, ohne dass jemand nach mir gesehen hatte. Kein Futter, kein Auslauf, nur Brandgeruch nach verschmortem Gummi. Wissen Sie, ich habe ja für so manches Verständnis, aber drei Tage in so einer engen Box, das ist kein Zuckerschlecken! Unsereins braucht doch ein wenig Bewegung, sonst werden die Gelenke steif. Dann hörte ich Schritte und Eisen klingen. Der Hufschmied? Etwas Metallenes schlug auf den Boden auf. Das war nicht der Hufschmied, das war nicht Pickel, das war sie. Ich erkannte sie an ihrem federnden Gang. Ich stand auf und schüttelte mich so gut es eben meine steifen Knochen erlaubten, denn seit Tagen stand ich eingesperrt in meiner Box oder lag in meinem Mist, und machte bestimmt keinen guten Eindruck. Den restlichen Kot habe ich mir am Verschlag abgeschabt. Nach Schweinemanier. Hab’ ich von Nicole gelernt, sie schabt sich ja auch, wo sie geht und steht, ist zwar nicht unbedingt nach Pferdeart, aber was soll’s? Ich bin durchaus bereit, von meinen Kollegen zu lernen.

      Ich wieherte ihr entgegen. Dann hörte ich wieder dieses Klimpern. Etwas Stählernes schlug auf den Boden auf. Sie hatte doch nicht etwa Zaumzeug dabei? Was wollte sie denn damit? Ich, ich war doch zum Kutscheziehen ausgemustert worden? Mit der Minusrechnung oder „Subtraktion“, wie Sokrates sagt, kam ich einfach nicht zurecht. Zusammenzählen, klar, wie viel sind drei Möhren und drei Möhren - das kann ich im Schlaf. Aber wie viel drei Möhren weniger drei Möhren sind, das krieg ich in meinen Kopf einfach nicht rein, und da die Besucher nach immer neuen Attraktionen verlangen - mit der Plusrechnung würde ich niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, meint Pickel - wurde ich ausgemustert zum Kutscheziehen. Nur zum Grand Finale durfte ich noch auflaufen, also kurz vor Schluss, wenn sich alle noch einmal verbeugen, damit dem Publikum noch einmal was geboten wird - fürs Auge.

      „Kling“, schlug das Metall wieder auf den Boden. Aber das war doch undenkbar, das waren Steigbügel. Ich wieherte, was das Zeug hielt und dann, dann kam sie zu mir. Wie in einer Westernshow warf sie den Sattel über einen herumstehenden Holzbock und zäumte mich auf. Was für ein Glücksgefühl, als sie mir den Sattel anlegte! Natürlich, ich bin ja ein ausgebildetes Reitpferd. Steht doch alles in meinen Papieren.

      Wenn Sie den ganzen Tag die klapprige Kutsche durch den Dreck ziehen, vergessen Sie sehr schnell, was alles in Ihnen steckt. Sie ritt mit mir aus. Toll, kann ich Ihnen sagen. Mitten durch die große Stadt Mannheim, den Boulevard „Planken“ entlang, am Schloss vorbei, über den Rhein nach Ludwigshafen und zurück. Das Sonnenlicht glitzerte im Fluss und das Horn eines Lastkahns brummte auf, nur um mich zu grüßen. Na ja, vielleicht nicht nur, um mich zu grüßen, aber schön wäre es schon gewesen. Der Verkehr hat mir gar nichts ausgemacht, ich habe eben eine hervorragende Ausbildung genossen.

      Was glauben Sie, wie mich die Passanten angestarrt haben? Und die Hunde kriegten sich gar nicht mehr ein. Die sollten es nur versuchen, mir in die Ferse zu beißen. Ich trage schwere Eisen, sie sollten es nur versuchen!

      Nach der Mittagspause, wir waren schon wieder zurück, ging sie mit mir zur Probe. Nichts Schweres. Keine Minusrechnung, kein Zusammenzählen. Einfach nur dastehen. Aber dieses Gefühl, Sie stehen wieder mitten in der Manege und wissen, ohne Sie geht hier gar nichts. Ich mache meinen Rücken ganz weich und kann sie im großen Spiegel, am Entrée, sehen. Am Eingang haben wir einen großen handgeschliffenen Kristallspiegel, der ein Vermögen wert sei, meint Pickel.

      Denn, wenn das Publikum die Eintrittskarte bezahlt hat, kommt es an der Kasse vorbei, kann sich im Spiegel sehen und denken, ich gehe in den Zirkus, ich bin toll. Das wäre eine erste Gegenleistung für das Geld an der Kasse, meint Pickel. Also ich finde, wenn Pickel sich im Spiegel sieht, könnte er den Zirkus verklagen, aber dann müsste er sich ja selbst verklagen. Geht das überhaupt? Kann man sich selbst vor Gericht verklagen?

      Wo war ich stehen geblieben? Ich sehe im Spiegel, wie sich meine Reiterin durch die Zirkuskuppel schwingt. Dann, mir bleibt das Herz fast stehen, stürzt sie sich mitten aus der Zirkuskuppel auf meinen Rücken. Atemberaubend! Dabei macht sie noch einen dreifachen Salto. Absolute Weltklasse! Sie ist unsere Attraktion. Mit ihrer Nummer könnte sie in jedem Zirkus der Welt auftreten, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einen blauen Fleck von ihr hatte, so eine Technik hat sie.

      „Das ist das Richtige“, hörte ich sie nach der Probe sagen. „Das“, als wenn ich eine Maschine wäre. Aber diese kleine Nachlässigkeit mir gegenüber, habe ich ihr verziehen.

      Einmal hab’ ich ihr sogar das Leben gerettet. Ganz bestimmt hab’ ich ihr das Leben gerettet. Die Kollegen schütteln bei diesem Punkt zwar mit dem Kopf, aber ich bin mir da ganz sicher. Pedro und Sue wollen natürlich nichts gesehen haben, obwohl sie in der Manege saßen und die Nummer von Miss Lulu beobachten sollten. Sie sollten ausnahmsweise mal keine Faxen machen und aufmerksam zugucken, aber das schaffen die beiden keine zwei Minuten. Das Ganze kam so: die Markierung war falsch gelegt worden. Die Manege wird neuerdings per Laserstrahl vermessen, das käme billiger, und wir könnten einen Akrobatikassistenten einsparen, meint Pickel.

      Aber nicht mit Helmut. Helmut zählt noch mit seinem eigenen Kopf, der verlässt sich nicht auf so ein fiepsendes Ding. Vom Stall bis zur Markierung sind es 77 Schritte. Ich kann bis 99 zählen. Mit dem rechten Huf kratzte ich früher, als das Zusammenzählen noch eine Attraktion war und das Publikum wegen mir in den Zirkus kam, eine 99 in den Sand. Ich bekam vom Zirkusdirektor eine Rechenaufgabe gestellt, und immer, ich weiß bis heute nicht warum, beziehungsweise wie der Herr Zirkusdirektor das gemacht hat, war das Ergebnis 99 Rüben. Immer kam ich nach langem Herumrechnen auf 99 Rüben, und das Ergebnis kratzte ich mit dem rechten Huf in den Sand und das Publikum klatschte Beifall. Aber dieser Beifall war beleidigend für mich. Die Reiter denken, ich bin dumm.

      An dem Tag, als ich Miss Lulu das Leben rettete, waren es nur 76 Schritte bis zur Markierung. Pickel fiepste mit diesem neumodischen Ding herum und legte prompt die Markierung falsch. Pickel führte mich zur Markierung. „Nanu, heute nur 76 Schritte?“ dachte ich. 99 Rüben und 77 Schritte, das ist leicht zu merken, dachte ich und machte den 77igsten Schritt. Doch Pickel schob mich zurück.

      „Gut“, dachte ich, „Pickel muss es ja wissen, schließlich ist er mein Vorgesetzter.“ Dann sah ich sie im Spiegel, vorne am Entrée. Ich sah sie schwingend in der Kuppel direkt über mir. Das heißt, nicht ganz über mir. Mir war klar, dass ich falsch stand. So etwas hab’ ich im Instinkt. Wieso merkte Pickel das nicht? Ich machte einen Schritt, den 77igsten, doch Pickel fuhr mir in den Zügel und schob mich zurück. Ob ich lebensmüde sei, fluchte er und zeigte mir die Peitsche. Ich sah im Spiegel, wie sie fiel und ihre Salti schlug, und ich sah, dass ich falsch stand. Ich schob mich nach vorn, aber ohne einen Schritt zu machen. In meinem Rücken stecken eine Menge Zentimeter und so fing ich sie sicher auf. Nach der Vorstellung bürstete sie mir das Fell aus. Sie brachte Blumen mit und flocht sie mir in die Mähne - die Reiterinnen finden so etwas hübsch. Jawohl, sie wollte, dass ich hübsch aussehe. Sie sagte kein Wort von wegen, „brav mein Brauner“ oder ähnliche, herabsetzende Kindereien. Sie weiß, dass ich sie gerettet habe.

      Manchmal wünsche ich mir, dass ich ein Schimmel wäre. Schimmel sind heutzutage ziemlich in Mode. Ich galoppiere mit ihr durch die Prärie. Die Verfolger sind uns dicht auf den Fersen. Meistens sind es Banditen und sie ist ein Indianermädchen. Ich springe mit ihr über eine Schlucht und wenn meine Hufe auf der anderen Seite aufschlagen, stieben die Funken. Die Pferde der Verfolger scheuen natürlich und bäumen sich auf. Aber das ist nur ein Traum und bevor hier geträumt wird, sollte erst mal jeder seine Arbeit machen, anständig machen, so wie ich

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