Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
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in den Hütten heimischer als in manchen Palästen.

      Darüber hinaus konnten wir uns verschiedentlich auch an den jeweiligen Gegebenheiten der äußeren Natur sehr erfreuen, an der Pflanzen- und Tierwelt ebenso wie an Sonne, Mond und Sternen. Schon das fortwährende Spiel der bunten Schmetterlinge, ihr harmonischer Reigen im Lichterglanz, das ständige Umwerben, Foppen und Lieben, ist doch allenthalben eine überaus faszinierende Darbietung. Oder bewusst wahrzunehmen, wie sich zum Beispiel die Knospen bestimmter Blumen von einem Tag zum anderen entfalten, um ihre ganze Pracht zu offenbaren, wirkt sicher gleichermaßen bezaubernd auf unsere Sinne. All das und vieles mehr nahmen wir häufig und gerne in Augenschein, beobachteten es manchmal stundenlang und zehrten lange von den teils verblüffenden Eindrücken.

      Wir lebten in einem winzigen Dorf namens Kispuszta (Kleine Puszta) mit insgesamt sechzehn datschenähnlichen Gebäuden, die lediglich aus Holz, Lehm und Stroh errichtet worden sind. Andere Baumaterialien standen uns nicht zur Verfügung. Die Bewohner schufen ihre Katen selbst, wobei sich die Nachbarn gegenseitig halfen. In der spärlichen Siedlung, welche sich obendrein noch auf drei Täler verteilte, wohnten ungefähr achtzig bis neunzig Leute, die sich hauptsächlich von landwirtschaftlichen Produkten aus eigenem Anbau oder teils auch als Wilderer ernährten. Dies war freilich strengstens untersagt, und wehe dem, der sich dabei erwischen ließ, aber man musste sich bei größter Hungersnot, besonders während der Winterzeit, ja irgendwie helfen, selbst mit Wissen um die Gefahr, schlimmstenfalls im Gefängnis zu landen.

      Jenes merkwürdige Dörflein, in dem ich meine Kinderjahre verbrachte, befand sich im Süden Ungarns, unweit der Grenze zum ehemaligen Königreich Jugoslawien. Mittlerweile ist es längst geschleift worden, dem Erdboden gleichgemacht, wohl für immer liquidiert. Weg, aus und vorbei! Nur die Erinnerung stirbt nicht.

      Der einschlägige Landstrich wurde übrigens auch als „Schwäbische Türkei“ bezeichnet, was unter anderem daran erinnert, dass er einstmals zum Osmanischen Reich gehörte.

      Die nächste Gemeinde mit beträchtlich mehr Einwohnern (Abels Wohnsitz!) lag etwa sechs Kilometer von unserer Niederlassung entfernt. Dort wurden zuweilen Entscheidungen gefällt, die auch unsere Angelegenheiten betrafen. Dennoch wusste man meistens kaum etwas voneinander.

      Wir vegetierten ziemlich isoliert, aber sehr naturverbunden. Unsere Notdurft verrichteten wir fast immer im Freien, je nach Drang irgendwo auf heimatlichem Boden stehend oder kauernd, meist jedoch auf dem Misthaufen, welcher sich in der Nähe der kleinen Stallungen befand. Als „Toilettenpapier“ benutzten wir Gras, Heu, Blätter oder sonstig geeignete Materialien. Etwas davon war immer da.

      Nur während der frostklirrenden und schneegekrönten Monate konnte es recht unangenehm werden. Da trieb es uns doch eher in ein kleines Holzhäuschen, welches unser Vater speziell für solche Zwecke gezimmert hatte. Ansonsten waren wir auch in dieser Hinsicht mehr der Natur zugetan, zumal das stille Örtchen ohnehin meist den Familienmitgliedern weiblichen Geschlechts vorbehalten blieb.

      Vielleicht verbarg sich hinter einer solch scheinbaren Nebensächlichkeit noch so etwas wie ein kleines Überbleibsel aus dem früheren Matriarchat, und zwar im besten Sinne des Wortes, indem man die Frau als Hauptträgerin des Lebens besonders fürsorglich verehrte und beschützte. Unsere Mutter, so klein sie auch war, erfuhr jedenfalls innerhalb der Familie überwiegend eine hohe Wertschätzung, was ich für sehr aufschlussreich halte.

      Den Küchenherd, die alleinige Koch- und Heizstelle, fütterten wir ausnahmslos mit Holz, das hauptsächlich wir Kinder aus den anliegenden Wäldern beschaffen mussten, indem wir es suchen, auflesen und heimbringen sollten. Doch manchmal gingen wir dabei auch ziemlich kühn zu Werke, obwohl es streng verboten war, Sträucher und Bäume zu fällen. Aber wir hatten Glück und freuten uns jedes Mal wie kleine Schneekönige darüber, nicht erwischt worden zu sein.

      Den staatlichen und privaten Forstbeständen schadeten unsere eigenmächtigen Aktionen mit Beil und Säge keineswegs, im Gegenteil, sie wurden dadurch gut ausgelichtet und konnten sich noch üppiger entfalten. Es entsprach ja auch keiner echten Freveltat. Ein gewisses Angstgefühl war trotzdem unser ständiger Begleiter, und das nicht zu Unrecht, wussten wir doch von den möglichen Folgen, die mitunter sehr brutal sein konnten, wie es uns vom Hörensagen hinreichend vertraut war.

      Das einzige Verkehrsmittel, dessen wir uns bedienen konnten und auch mussten, um zu überleben, waren unsere Füße. Nur ein paar Dörfler, denen es materiell etwas besser ging, besaßen schon einen Ochsenkarren oder vereinzelt sogar einen Pferdewagen.

      Bei sehr dringendem Bedarf halfen sie uns allerdings mit ihren Fuhrwerken und Zugtieren.

      Gelegentlich durften wir auch zu den traditionellen Wochenmärkten mitfahren, wo wir unter anderem Salz, Zucker oder auch das nötige Schuhwerk für den oftmals grausamen Winter erwarben (während der Sommerzeit liefen wir selbstverständlich barfuß). Sobald wir die beliebten Handelsorte nur per pedes besuchten konnten, was hin und wieder vorkam, war dafür meist ein ganzer Tag einzuplanen.

      Unsere lebenden Habseligkeiten beschränkten sich jedenfalls auf einige Schafe und Ziegen sowie Hühner und höchstens zwei Schweine. Ach ja, zwei Katzen hatten wir auch. Doch von wegen „Whiskas kaufen“! Wenn es gegenwärtig hierzulande und auch anderswo riesige Unternehmungen für die Herstellung und den Vertrieb von Tierfutter gibt und sie daraus auch noch gewaltigen Profit schlagen, so ist das zweifelsfrei Ausdruck eines relativ hohen Lebensstandards der jeweiligen Bevölkerungskreise, was sich durchaus positiv werten lässt. Unsere Dachhasen hingegen waren nicht als liebliche Schmusemiezen in der Art gefälliger Stubentiger gehalten und verwöhnt worden, sondern allein wegen ihrer einstmals natürlichen Bestimmung, nämlich Mäuse und sonstige Schädlinge zu fangen. Und das machten sie auch emsig, denn sie existierten davon, wenngleich bei Weitem nicht immer wie die Made im Speck. Im Vergleich dazu haben unzählige Samtpfoten derzeit das reinste Paradies, besonders hier in Deutschland. Es ist ihnen zu gönnen.

      Im Übrigen kann ich mich gar nicht daran erinnern, dass auch nur eine der Katzen sich jemals in unserer Wohnung aufgehalten hätte. Sie waren immer draußen und bekamen hin und wieder einen kleinen Happen, damit sie uns die Treue hielten.

      Außerdem besaßen wir auch noch einen Wachhund. Es gab ja genügend Landstreicher, vorwiegend umherziehende Zigeunergruppen, die aufs Stehlen erpicht waren, da sie mit den üblichen Arbeitspflichten zum Zwecke des ehrbaren Broterwerbs wenig oder gar nichts im Sinne hatten (ich weiß, dass die Bezeichnung Zigeuner heute ein Schimpfwort ist, aber die Be- griffe Sinti und Roma waren uns seinerzeit unbekannt, und wir hätten sie wahrscheinlich auch nicht benutzt).

      Für schuldlos Not leidende und daher wirklich hilfsbedürftige Bettler, die sich bisweilen auch zu uns verirrten, hatten meine Eltern und auch die anderen Dorfbewohner indessen stets etwas übrig. Sobald sich jedoch besonders hartnäckige Eindringlinge allzu verwegen zeigten, ging es oftmals gnadenlos zur Sache. Da waren sich alle Siedler spontan einig, indem sie entschlossen zu den „Waffen“ griffen, die sich gerade in ihrer Nähe befanden.

      Dass es nach derart heißen Gefechten auch Verletzte gab, dürfte kaum jemanden verwundern. Tote waren allerdings nicht zu beklagen. Eine solche Schreckensnachricht erreichte uns erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als die „Russen“ kamen (diese Vokabel verwenden wir doch ebenso oft unpräzise wie zum Beispiel „Amerikaner“, obwohl die ehemalige Sowjetunion in Wirklichkeit über hundert Nationen und ethnische Minderheiten umfasste; mit der Sprache nimmt man es eben mitunter nicht so genau).

      Im übernächsten Dorf hatte man drei uniformierte Männer mit mongolidem Aussehen während eines Saufgelages absichtlich überrascht, kurzerhand erschlagen und in einer nahe befindlichen Jauchengrube versenkt, weil sie ein Mädchen abscheulich missbrauchten, indem sie es hintereinander vergewaltigten und damit furchtbar schändeten.

      Das gleiche Verbrechen widerfuhr übrigens wenige Tage vorher auch meiner Schwester im Alter von siebzehn Jahren. Aber wir hatten keine Chance, uns zu rächen, zumal der Vater und die älteren Geschwister gerade nicht anwesend waren und die Nachbarn davon nichts mitbekamen. Insofern verspürten wir unmittelbar nach der Hiobsbotschaft, welche sich schneller als ein Lauffeuer verbreitete und bald überall die Runde machte, eine Art persönliche Genugtuung über die Vergeltungsmaßnahmen, selbst wenn sie noch so teuflisch