Es liegt mir völlig fern, bei Ihnen gegebenenfalls Erwartungen zu wecken, die ich nicht erfüllen werde. Dies ist, wie Sie inzwischen sicherlich schon bemerkt haben, keine Verbrechensgeschichte üblicher Art, obwohl sich passende Aspekte als durchgehendes Motiv wie Perlen auf einem roten Faden aneinanderreihen. Aber ihr edler Glanz verblasst des Öfteren infolge vieler Seitenschleifen, die wiederum mit teils bohrenden Gedanken zu mancherlei Problemen des Lebens gefüllt sind, da ich weder ein Schreiber ohne eigene Meinung, noch ein bedenkenloser Nichtsverkäufer sein möchte.
Zudem entspricht die vorliegende Lektüre nur bedingt einer Erzählung im klassischen Sinne, und einem Roman gleicht sie erst recht nicht, weil einzelne Textpassagen stark zum Sachbuch tendieren. Auch das wird Ihnen längst aufgefallen sein.
Ich frage mich sowieso manchmal, warum man sich mit geschriebenen Botschaften partout in herkömmliche literarische Sujets pressen lassen soll. Um dem zu entgehen, verfahre ich absichtlich nach eigenem Gutdünken.
Das bedeutet: Auch wenn unsere Fantasie angesichts der noch bevorstehenden, teils unheimlichen und zutiefst rätselhaften Handlungen Abels (oder seines schärfsten Widersachers?) bisweilen noch so üppig blühen mag, werden wir trotzdem generell auf Sachlichkeit achten und die Ereignisse so nehmen, wie sie wirklich sind, sich jedem zeigen, der sich ohne vorgefasste gedankliche Schrullen an sie herantastet. Demnach wird der berühmte Lügenbaron Münchhausen nur im äußersten Bedarfsfalle zurate gezogen, obwohl seine Abenteuernatur fortwährend reizvoll und lehrreich bleibt, eine schriftstellerische Köstlichkeit eben.
Zugegeben, ein bisschen flunkern will ich ja auch hin und wieder. Das gehört einfach zur Literatur. Es wird jedoch nur in Ausnahmefällen vorkommen.
Freilich wirkt eine spannende, verführerische Lüge bei den meisten Adressaten viel nachhaltiger als eine langweilige Wahrheit, dennoch sind Ammenmärchen nicht meine Stärke. Das überlasse ich lieber einigen Politikern oder sonstigen Sprücheklopfern und Schaumschlägern. Sie erweisen sich darin wesentlich geschickter, weil sattsam geübt.
Gleichwohl erlaube ich mir eine gewisse dichterische Freiheit. Ansonsten wird es ja auch nicht annähernd eine (Kriminal-)Erzählung, bestenfalls eine mehr oder weniger gute journalistische Berichterstattung, welche der Glaubwürdigkeit wegen jedoch auch zu ihrem Recht kommen soll. Deshalb erscheint es mir geboten, stimmungsvolle Bilder sparsam einzusetzen (mir fehlt eh die poetische Ader), mit Dialogen noch verhaltener umzugehen und sprachkünstlerische Schnörkel weitestgehend zu vermeiden. Kurz und bündig: Es ist meine feste Absicht, ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit zu vermitteln.
Nicht zuletzt werde ich wie bisher versuchen, ungebräuchliche Fremdwörter möglichst strikt zu vermeiden, denn mir liegt sehr viel daran, dass meine Ausführungen von allen Lesern, die sich das Buch zu Gemüte führen, mühelos nachvollzogen und verstanden werden. Hoffentlich gelingt mir das auch ohne Unterlass! Überdies will ich nicht verhehlen, sondern nochmals betonen, dass mir die deutsche Sprache besondern am Herzen liegt. Sie verfügt nicht nur über ein nahezu unerschöpfliches Vokabular, auch ihr bezaubernder Wohlklang hält mich gefangen. Ja, ich bin seit Langem regelrecht in sie verliebt! Dennoch neige ich stark zur Auffassung des erfolgreichen, überaus mutigen, fast schon revolutionär handelnden Theaterregisseurs Volker Lösch, wenn er meint, dass ehrgeizige Kunstübungen, mögen sie noch so clever inszeniert werden, im Grunde genommen wenig oder nichts bringen, weil sie in keiner Weise in das reale Leben eingreifen. Beim Texter sollte der Inhalt stets wichtiger sein als die Form. Das gilt für die Kunst generell, sofern sie etwas bewegen möchte und nicht nur dem Ergötzen dient. Ihre Aufgabe ist es, unsere Hirnzellen anzuregen, das Nachdenken zu beflügeln. Um das zu bewirken, muss man freilich streckenweise bewusst gegen den Strom schwimmen.
Genug der wiederholt erklärenden Worte und hin zu den Ursprüngen des Hauptakteurs!
5
Hinsichtlich der mannigfachen Rückblicke auf unsere Kindheit, die früher oder später jeden ereilen dürften, müssen wir wohl allesamt bis zu einem bestimmten Maße ehrlich zugeben, dass man im Nachhinein vieles anders und einiges davon auch verklärter sieht, als es tatsächlich war. Das halte ich indessen für durchaus normal, weil entsprechende Wertungen zwangsläufig mit neuen Erfahrungen verknüpft werden, ganz abgesehen davon, dass unser persönlicher Standpunkt ohnedies stets subjektiv bleibt.
Schaue ich zuweilen gedankenversunken auf meine frühen Jahre, so vermag ich selbst nach dem Abstand von weit mehr als einem halben Jahrhundert weder eine überschwängliche Lobeshymne, noch ein wehmütiges Klagelied darüber anzustimmen. Wir hatten sowohl gute als auch schlechte Zeiten. Es war eben nicht anders und Punkt!
Gleichwohl befand sich Abel damals in einer nahezu gegensätzlichen Situation. Er hatte für seinen Entwicklungsweg größtenteils wesentlich günstigere Voraussetzungen als ich.
Während seine Mutter in Budapest eine hervorragende Ausbildung zum Lehrerberuf genoss und diesen auch mit großer Freude sowie überaus imponierendem Erfolg ausführte, befand sich sein leiblicher Vater in einer ähnlich vorteilhaften Lage, denn auch er war als junger Seelsorger innerhalb seiner Gemeinde außerordentlich beliebt.
Anders wäre sowieso nicht zu erklären, wie es sein konnte, dass ein katholischer „Sündenbruder“ der geweihten Mission eines priesterlichen Hirten vollkommen ungescholten nachkommen durfte. Es fand sich schlichtweg kein einziger Denunziant, der von sich aus bereit gewesen wäre, das „sträfliche Vergehen“ bei der Obrigkeit zu melden, ihn anzuschwärzen. Dafür stand er viel zu sehr in der Gunst aller Einheimischen, obwohl jeder wusste, dass er trotz kirchlichen Verbots zwei Kinder gezeugt hatte.
Außerdem war seine übergeordnete Dienststelle weit entfernt. Sie hatte in Pécs (Fünfkirchen) ihren Sitz und kümmerte sich überhaupt nicht um die Belange in den abgelegenen Provinzen, solange keine ernsthaften Beschwerden eingingen oder gravierende Vorkommnisse die Runde machten.
Im Übrigen hatte der höhere Klerus damals wohl auch ganz andere und teils sogar wichtigere Aufgaben, denn er verfügte nach wie vor über eine große politische Macht, die er natürlich unentwegt sichern und möglichst noch weiter ausbauen wollte.
Das wiederum gereichte fraglos auch Abel zum Vorteil, der bei seinen Großeltern mütterlicherseits wohnte, wo auch der angesehene Pfarrer zur Untermiete logierte, seitdem er dort nach der Pensionierung des Vorgängers als beauftragter Gemeindehirte wirkte.
Es war nach seinem erfolgreichen Studium in der Landeshauptstadt seine erste Stelle, wohin er als frischgebackener Diener Gottes beordert worden ist, um sich in der Praxis zu bewähren.
Die phänomenale Feuertaufe erstreckte sich jedoch nicht nur auf seinen beruflichen Werdegang, sondern ebenso auf seine unbändige Manneskraft und die späteren Vaterpflichten. Wer könnte es ihm auch verübeln (von stockkonservativen Religionsfanatikern einmal abgesehen), dass er sich schon bald in die fesche Maid des Hauses grenzenlos verliebte, zumal sie ihn mit ihren ausnehmend diabolischen Reizen unaufhaltsam verführerisch lockte. Da hilft kein noch so strenges Zölibat, jenes fragwürdige Gelübde, das nach traditioneller Vorschrift namentlich katholischen Geistlichen den Verzicht auf Ehe und sexuelle Kontakte zum weiblichen Geschlecht auferlegt. Es ist ja auch wider die Natur des Menschen und daher grundsätzlich eine höchst seltsame Verhaltensregel. Dessen ungeachtet erweist sie sich als besonders zählebig, denn sie ist immer noch aktuell. Was sich doch manche Leute so aufbürden! Unsereiner kann das bestenfalls mit ehrfürchtigem Staunen zur Kenntnis nehmen. Aber das nur als Randbemerkung.
Das hübsche Fräulein aus einer der wohlhabendsten Familien im Ort ward also die heiß geliebte Partnerin des überglücklichen Würdenträgers, wenn auch ohne Trauschein, so doch unter der schützenden Obhut freiwillig entgegenkommender Verschwiegenheit seitens der gesamten Dorfgemeinschaft. Demzufolge erblickte auch ihr gemeinsamer Filius quasi schon mit einem Silberlöffel im Mund das Licht der Welt. Da er außerdem bis zur Ankunft seines Bruders fast sechs Jahre lang Einzelkind war (Peter erblickte im Oktober 1946 das Licht der Welt), standen ihm buchstäblich alle Türen offen, die man sich nur wünschen kann, damit möglichst sämtliche Träume in Erfüllung gehen. Oder vielleicht doch nicht? In Bälde erfahren