Das Elbmonster. Gerner, Károly. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerner, Károly
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643777
Скачать книгу
zu widmen. Sodann unterrichtete sie über mehrere Jahre hinweg die Schüler in ihrem Heimatort Mágocs, ehemals Komitat Barayna, bevor sie die unversehens verwaiste Stelle an der Minischule in unserer Siedlung Kispuszta übernahm.

      Damals ging das makabre Gerücht um, dass ihr Vorgänger, der seit eh und je alleinstehende Pauker, während eines üblichen Ausritts mit seinem fürchterlich abgemagerten Klepper sich in einen tiefen Morast verirrte, der sowohl Pferd wie Reiter gierig verschlang. Seither wurden beide niemals mehr gesehen, auch keinerlei sterbliche Überreste von ihnen. Damit war es zugleich mit den teils höchst seltsamen Gepflogenheiten des „Habichts“ vorbei, wie ihn unsere Dörfler manchmal auch nannten, wahrscheinlich deshalb, weil er sich bisweilen urplötzlich wie ein Greifvogel auf Jungen stürzte, die sich offenbar nicht seinen Wünschen gemäß verhielten. Die Mädchen hingegen waren anscheinend immer brav und folgsam. Ach, die lieben weiblichen Krabben!

      Ergo erschien für alle völlig überraschend eine ausnehmend schöne junge Frau auf unserer Bildfläche. Sie bezog erwartungsgemäß die erwähnte Mansardenwohnung, nutzte diese jedoch relativ selten, weil sie beinahe täglich heimfuhr, um bei ihrer Familie zu sein, sofern sie nicht durch irgendwelche zusätzliche Pflichten oder schlechte Witterungs­bedingungen und anderweitige Gründe daran gehindert wurde.

      Falls sich während ihrer berufsbedingten Abwesenheit auch der über alle Maßen fürsorgliche Papa wegen seiner dienstlichen Obliegenheiten nicht persönlich um die Sprösslinge kümmern konnte, bemühten sich die Großeltern mit Freuden und einer fast grenzenlosen Hingabe um die von allen angebeteten Stammhalter mütterlicherseits. Man hätte die beiden Jungen unter keinen Umständen auch nur im Geringsten vernachlässigt.

      Die jeweils sechs Kilometer lange Wegstrecke vom Wohn- zum Arbeitsort und wieder zurück bewältigte unsere königlich verehrte Lehrerin überwiegend mit einem Fahrrad. Das war für uns Hinterwäldler damals ein geradezu sensationelles Stahlross, welches insbesondere wir Schüler anfänglich nicht genug bewundern konnten. Und natürlich war es unser sehnlichster Wunsch, irgendwann selbst eines zu besitzen. Manchmal träumten wir sogar davon. Bei mir erfüllte sich jene kindliche Hoffnung erstmals mit siebzehn Jahren hier im herrlichen Sachsenland, nachdem ich meine Lehrzeit erfolgreich abgeschlossen hatte und als jugendlich gekürter Elektromonteur ausreichend Geld verdiente, um es mir leisten zu können, worüber ich selbstredend sehr glücklich war.

      Unsere zauberhafte Madonna kam indessen hin und wieder auch mit einer einspännigen Pferdekutsche vorgefahren. Es handelte sich um ein derart prachtvolles Exemplar, dass wir es gleichermaßen oft und gern mit sichtlichem Staunen in Augenschein nahmen. Überhaupt sorgte die holde Schönheit fortwährend für tolle Überraschungen, die wiederum unserer ohnehin regen Fantasie ständig neuen Nährstoff boten.

      Doch sämtliche Faszinationen, wie einzigartig sie auch gewesen sein mögen, die von ihr ausgingen und uns allesamt unweigerlich in ihren Bann zogen, fanden Anfang Mai 1948 schlagartig ein verdammt bitteres Ende. Wir erhielten nämlich überraschend die Schreckensnachricht, dass sie und ihre Familienangehörigen schleunigst ausgebürgert würden, da sie noch kurzerhand als mögliche Kollaborateure der ehedem verbündeten Deutschen eingestuft wurden, zu deren nationalen Minderheit sie im Lande der Magyaren gehörten.

      Letzteres war uns bis dato vollkommen unbekannt. Nicht einmal die leiseste Ahnung hatten wir davon. Umso sprachloser nahmen wir die entsetzliche Mitteilung auf, zumal wir schon glaubten, die gewaltsame Aussiedlung von „unerwünschten Personen“ wäre abgeschlossen und niemand brauchte sich mehr zu fürchten, eventuell noch vom selben grausamen Schicksal ereilt zu werden, das bereits zuvor viele unbarmherzig hart getroffen hatte. Aber diese Annahme erwies sich als ein verhängnisvoller Irrtum, wie sich bereits zwei Tage nach der Hiobsbotschaft herausstellte, denn auch wir mussten unsere angestammte Heimat verlassen. Es gab keinerlei Pardon. Darauf zu hoffen, wäre absolut vergebliche Mühe gewesen. So packten also auch wir innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Allernötigste von den ohnehin bescheidenen Habseligkeiten zusammen, um mit gebrochenen Herzen unwiderruflich Adieu zu sagen.

      Im Gegensatz zu unserem mageren Besitztum war bei den engsten Angehörigen der vergötterten Pädagogin wirklich einiges an materiellen Werten zu holen (angefangen vom schmucken Wohnhaus, zu dem Ställe für Kühe, Pferde und kleinere Tiere gehörten, bis hin zu fruchtbaren Weinbergen, Äckern und Wiesen). Das lohnte sich echt für die künftigen Nutznießer. Es dürfte wohl auch der entscheidende Grund für ihre Zwangsvertreibung gewesen sein.

      Ob ein solch unerhörter Schicksalsschlag reiche Leute schmerzhafter verletzt als die armen, vermag ich nicht zu beurteilen. Gleichwohl gebe ich zu bedenken, dass es sicherlich bei allen Betroffenen tiefe Spuren der erlittenen Schmach hinterlässt.

      Wir waren zwar an mannigfache Entbehrungen gewöhnt, wenn einem aber selbst das Wenige, das man sich mühsam erarbeitet hat, auch noch weggenommen wird, muss es unabwendbar zu seelischen Erschütterungen führen, die man zeitlebens im Gedächtnis behält, ohne dabei etwa an Rache zu denken. Nichts liegt uns ferner.

      Zwischen 1946 und 1948 wurden rund 185.000 Personen, die zur deutschen Volksgruppe in Ungarn gehörten, kollektiv abgestempelt und ihrer Rechte beraubt, indem man die Staatsbürgerschaft aberkannte, ihr Eigentum beschlagnahmte und sie des Landes verwies. Laut Beschluss des ungarischen Parlaments vom 10. Dezember 2012 soll künftig jeweils am 19. Januar daran erinnert werden.

      Solche Gedenktage werden uns hoffentlich veranlassen, als nunmehr wieder versöhnte und freundschaftlich verbundene Partner gemeinsam in die Zukunft zu blicken, denn es kann nicht darum gehen, etwa alte Wunden aufzureißen oder gar Gedanken der Ahndung zu schüren.

      Seinem Wesen nach dürfte wohl jedwedes revanchistische Geschrei eher schädlich als nützlich sein, unter welchem Vorwand es auch immer geschürt werden mag. Damit meine ich allerdings nicht die gelegentlichen oder teils auch regelmäßigen Zusammenkünfte von Vertriebenen, um Erinnerungen aus ihrer ehemaligen Heimat auszutauschen oder alte Sitten und Bräuche zu pflegen. Das ist ja eine willkommene Bereicherung unserer Kultur (wie überhaupt die einstigen Neuzugänge von etwa vierzehn Millionen Personen so manch Interessantes nach Deutschland brachten oder es später hier erwirkten, auch wenn sie vorerst unerwünscht waren).

      Nein, es geht mir vielmehr um jene Krakeeler, die immer wieder lauthals unbillige Forderungen an die Menschen ihres Herkunftslandes stellen.

      Ich vertrete die Auffassung: Sofern man schon nicht vergessen kann, sollte man wenigstens verzeihen, und zwar von allen Seiten!

      Einzelne Vertriebenengruppierungen faseln immer wieder von angeblich rechtmäßigen Entschädigungsansprüchen. Wenn man das konsequent weiterführt, müssten sich ja die Völker ganz Europas ihre peinvolle Vergangenheit gegenseitig aufrechnen.

      Ich kann diesbezüglich nur beherzt dazu aufrufen: Leute, hört endlich auf mit euren selbstsüchtigen Forderungen! Fehlt es euch an täglichem Brot? Doch gewiss nicht! Außerdem hat die Bundesrepublik inzwischen selbst alle von Flucht und Vertreibung betroffenen Mitbürger zumindest symbolisch entschädigt. Also: Lasst unsere Nachbarn und andere Völker endlich in Frieden leben! Sie haben in ihrer Geschichte wahrhaftig schon mehr als genug Leid erfahren müssen, und das bestimmt nicht vollkommen ohne deutsches Zutun. Gefährdet nicht weiter das zarte Pflänzchen freundschaftlicher Aussöhnung, ein überaus kostbares, weil zukunftsträchtiges Gut!

      Dementgegen üben sich notorisch Uneinsichtige mit ihren dreisten Forderungen nach wie vor lauthals in scharfmacherischen Tönen. Das ist ausgesprochen unverschämt!

      Trotzdem sollte es uns nicht wundern, wenn sich auch dafür einige Winkeladvokaten finden, die zuallererst für sich reichlich fette Beute wittern und demnach keinerlei Skrupel haben, entsprechende Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Geld und Moral sind zweierlei Kategorien, die sich meist gegenseitig ausschließen und daher nur äußerst selten eine liebevolle Partnerschaft eingehen.

      Es reicht! Zurück nach Ungarn!

      Jedenfalls fanden sich bald nach der grausamen Order zum sofortigen Verlassen heimatlichen Bodens knapp eintausendfünfhundert Bürger, die als „Nachzügler“ vom selben Unglück gezeichnet waren, wie es unzählige Menschen aus vielen Ländern bereits während der letzten Kriegsmonate und besonders in den beiden Jahren