Aus dem Off. Ruliac Ulterior. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ruliac Ulterior
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752904697
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zu sehen war. Wie es diesem nun bei den aktuell herbstlichen Temperaturen gerade ging, war nicht herauszufinden. Ich verstand diese Frau eh kaum, mein spärliches Schulwissen war mit ihren englischen Lall-Lauten überfordert. Dass sie alle «boys and men» hasste, das immerhin drang zu mir durch. Doch irgendwer hatte ihr die wärmende Jacke überlassen und fror sich mutmaßlich gerade irgendwo im nächtlichen Berlin einen Ast ab.

      Am Hauptbahnhof stiegen wir zwar gemeinsam aus, gingen jedoch in verschiedene Richtungen. Sie nuschelte noch etwas von «big love», purzelte ein Stück die nächstgelegene Treppe hinunter und landete unsanft auf ihrem Hinterteil. Sie wird wohl eine Weile lang nicht schmerzfrei sitzen können. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, rief ich ihr noch ein «Good luck!» hinterher. Eine süße Frau, aber ich musste weiter zu meinem Zug. Außerdem war sie vergeben und hasste ja alle Männer.

      Ich war total fertig, als ich heute Mittag wieder hier in Aachen ankam und ließ mich ins Bett fallen. Zuvor war ich noch für kurze Zeit online gegangen, aber bald fielen mir einfach die Augen zu. Nicht nur, dass ich während der letzten Tage sehr wenig geschlafen hatte, auch die ganzen Zugfahrten und die vielen Menschen, unter denen ich mich die ganze Zeit über aufgehalten hatte, forderten ihren Tribut. Eine Sozialphobie ist eben eine ziemlich erschöpfende Angelegenheit.

      Doch es gibt jetzt noch einiges zu tun. Zum Beispiel habe ich immer noch keinen Nachmieter für meine Aachener Wohnung gefunden und eigentlich müsste ich sie beim Auszug renovieren, wenn sich kein Nachmieter gegen Übernahme von Laminat und Herd dazu bereit erklärt. Internet und Strom für die Berliner Wohnung mache ich übernächste Woche klar, wenn der Hausmeister mein Namensschild am Briefkasten angebracht hat, so dass ich dort Post bekommen kann. Einen Briefkastenschlüssel habe ich allerdings noch nicht. Ich habe sechs Schlüssel mitbekommen, die zwar alle wie Briefkastenschlüssel aussehen, aber keiner davon hat gepasst. Das kläre ich dann nächsten Monat persönlich im Büro der Wohnungsverwaltung.

      Montag, 12. November 2007, 15 Uhr 2

      Soeben führte ich ein Telefonat mit Herrn Theiss-Schmitz, dem Rektor des Berliner Kollegs, an dem ich mich beworben hatte. Wegen meiner Erwerbsunfähigkeit solle ich eine ärztliche Schulfähigkeitsbescheinigung nachreichen, aber angeblich stehe einer Aufnahme von mir dann nichts mehr im Wege. Morgen also noch zum letzten Mal zu meinem Aachener Hausarzt, und das wars dann wohl.

      Dienstag, 13. November 2007, 16 Uhr 22

       Mein Hausarzt stellte mir die Bescheinigung ohne Zögern aus und ermutigte mich bezüglich meines eingeschlagenen Weges. Er ist mit mir einer Meinung, dass das mit Berlin im Allgemeinen und dem Kolleg im Besonderen ein guter Weg ist, zurück ins Leben zu gehen, ohne mich dabei wieder dem staatlichen Kontroll- und Sanktionierungssystem zum Fraß vorzuwerfen, mich dadurch in eine ohnmächtige Situation zu begeben. Er hat mir auch nochmal bewusst gemacht, was alleine schon die Tatsache, dass ich diese Wohnung nun bekommen habe, Positives über mich, meine Motivation und meine Fähigkeit zu sozialen Kontakten aussagt, was für ein großer Schritt dies alles bereits jetzt schon sei.

      Ich bin ihm sehr dankbar für diese Rückmeldung, zumal er auch eine psychotherapeutische Ausbildung besitzt. Meine letzte Therapie brach ich vor mehr als zehn Jahren ab, weil ich an meiner Entblößungsgrenze angelangt war und mir die Sitzungen daher schließlich keine Fortschritte mehr brachten. Im Gegensatz zu anderslautenden Gerüchten kann man sich aber offenbar auch ohne einen Therapeuten weiterentwickeln.

      Donnerstag, 15. November 2007, 23 Uhr 52

      Die Aufnahme von Fruchtzucker hat sich inzwischen anscheinend verbessert, seit ich Weizenprodukte meide. Zwar bin ich immer noch vorsichtig, aber Bananen und Clementinen sowie Tomatenmark kann ich zu mir nehmen, jedenfalls in kleineren Mengen. Zugegeben, manche meiner Versuche waren mehr als grenzwertig. Einen ganzen Beutel Rosinen zu zweihundert Gramm auf einmal zu essen, das wäre wohl für jeden zu viel gewesen.

      Sonntag, 18. November 2007, 18 Uhr 32

      Keine zwei Wochen mehr sind es noch bis zu meinem Umzug! Und immer noch habe ich keinen Nachmieter gefunden. Zwar gibt es bereits genug Interessenten, aber mein Vermieter lässt sich viel Zeit mit seiner Entscheidung. Und bei dem Kabelnetzanbieter, bei dem ich eine Flatrate fürs Internet beantragt habe, ist man sich hausintern nicht darüber einig, ob man mir unter meiner neuen Adresse Internet überhaupt anbieten kann. Und die Vertragsunterlagen sind bisher auch noch nicht bei mir angekommen. Man kann mir in diesem Saftladen noch nicht einmal Auskunft darüber geben, ob man etwas an mich abgeschickt hat, geschweige denn, an welche Anschrift! Der Umzug strapaziert mein rudimentäres Urvertrauen an sich schon genug, auch ohne diese ganzen offenen Enden.

      Gerade habe ich im Fernsehen eine Dokumentation über die Schlacht von Stalingrad gesehen und komme mir nun absolut lächerlich vor mit meinen Problemen. Aber das hilft auch nicht.

      Dienstag, 20. November 2007, 20 Uhr 15

      Es geht mir wieder besser. Inzwischen ist sogar die Vorfreude auf Berlin zurückgekehrt. Ich bin wirklich unendlich dankbar dafür, Aachen endlich verlassen zu können. Nicht nur Martin gegenüber, der mir das Geld für diesen Umzug geliehen hat, sondern auch dem Schicksal.

      Schicksal ist vielleicht ein zu eng gefasstes Wort dafür. Aber ich glaube daran, dass jeder eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen hat in seinem Leben, bestimmte Erfahrungen machen soll. Ich lebe nicht deswegen hier in Deutschland, auf dieser Insel der Glückseligkeit in Raum und Zeit, damit es mir einfach gut geht, sondern damit ich einen geschützten Rahmen habe, in dem ich mich auf eine bestimmte Art weiterentwickeln kann.

      Hinter uns liegt das Grauen des Zweiten Weltkrieges, um uns herum werden die Leute gefoltert und verhungern und vor uns liegt das Chaos der Klimakatastrophe und einer verseuchten und zerstörten Umwelt. Wie gesagt, eine Insel der Glückseligkeit in Raum und Zeit. Man muss dieses Fenster nutzen, bevor wir uns beim Kampf um eine Flasche sauberen Trinkwassers gegenseitig den Schädel einschlagen. Es ist eben alles eine Sache des Blickwinkels und der Maßstäbe.

      Freitag, 23. November 2007, 19 Uhr 30

      Genau eine Woche vor meinem Auszug informierte mich mein Vermieter heute per E-Mail darüber, dass er sich für einen Nachmieter entschieden hat und der Vertrag bereits unterschrieben ist. Diese Sache ist nun also auch endlich gegessen.

      Derzeit denke ich darüber nach, in Berlin doch wieder einen Einstieg in das Studiotraining zu wagen. Die Schrägbank vermag mich immer noch nicht zu motivieren. Eigentlich ist es eine Schande. Seit neun Monaten bringe ich es nicht über mich, diese Ressource zu nutzen. Vielleicht liegt das aber nur an meinen Depressionen. Am besten warte ich erst einmal ab, was genau mich in meiner neuen Heimat erwartet.

      Samstag, 24. November 2007, 8 Uhr 36

      Der Berliner Kabelfernseh-Provider hat es endlich geschafft, ein Schreiben an meine Aachener Anschrift zu schicken. Internet über den Anschluss fürs Kabelfernsehen ist in meinem Wohngebiet nicht möglich, jetzt also definitiv. Aber es ist doch immerhin sehr schön, dass die auf ihrer Homepage einen Verfügbarkeits-Check anbieten - der falsche Auskünfte erteilt!

      Mittwoch, 28. November 2007, 15 Uhr 22

       Eben bin ich zum letzten Mal in Aachen gelaufen, und das bei absolut herrlichem Wetter. Es war ein gelungener Abschied von meiner geliebten Laufstrecke.

      Zwei Tage lang habe ich hier bereits von morgens bis abends herumgewerkelt, um den Umzug vorzubereiten. Ich liege halbwegs im Zeitplan, habe aber die Befürchtung, dass der Lieferwagen eventuell doch zu klein sein könnte und ich irgendetwas hier zurücklassen muss.

       Heute Abend werde ich meine Verbindung zum Internet trennen, indem ich die gesamte Computer-Hardware ausstöpsele und verpacke. Meine nächsten Zeilen kommen dann hoffentlich aus Berlin. Übermorgen ist der große Tag, an dem ich Aachen verlassen werde!