Aus dem Off. Ruliac Ulterior. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ruliac Ulterior
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752904697
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öffentliche Zurschaustellung des eigenen Körpers und nicht zuletzt der Ekel vor Pilzsporen, dass alles verdichtet sich immer wieder zu einer schier unüberwindbaren Mauer.

      Und außerdem bringe ich auch ganz allgemein keine Motivation mehr auf, verliere zusehends den Glauben, etwas in meinem Leben zum Positiven verändern zu können. Ich erkenne keinen Sinn und kein Ziel, nichts, dass mich mehr begeistern könnte. Es ist ein ständiger Kampf ohne Belohnungen. Das packe ich nicht mehr!

      Überall im Alltag sind um einen herum Leute, denen man bloß nicht zu viel erzählen darf. Ständig wird man gefragt, wie es einem gehe, dabei interessiert es ja doch niemanden. Reicht denn kein einfaches Hallo aus? Am liebsten würde ich diesen ganzen Arschlöchern ins Gesicht brüllen, wie es mir geht! Ich brauche jemandem, mit dem ich wirklich reden kann, eine echte Lebenspartnerin. Diese Einsamkeit zermürbt mich.

      Wenigstens laufen gehe ich noch regelmäßig, so wie auch heute. Aber dafür muss ich mich nicht überwinden. Ich habe einen inneren Drang dazu.

      Mittwoch, 13. Juni 2007, 22 Uhr 46

      Nach dem heutigen Lauftraining und der Radfahrt zur Selbsthilfegruppe sowie der Teilnahme an eben dieser erlebe ich gerade eine angenehme Phase großer Ausgeglichenheit und Klarheit.

      In der Gruppe ging es heute hoch her. Eine Teilnehmerin brach in Tränen aus. Ihre Gesprächspartnerin hatte zuvor den Eindruck einer äußerst aggressiven Dominanz erweckt. Gemeinsam reflektierten wir die Situation und klopften uns dann kollektiv auf die Schulter, weil wir das Problem gemeistert hatten. Denn nicht ohne Grund wird die Lebenserwartung unmoderierter Selbsthilfegruppen für Borderliner gemeinhin als nicht besonders hoch eingeschätzt.

      Montag, 25. Juni 2007, 14 Uhr 4

      Das Wochenende verbrachte ich auf einem Treffen in Berlin mit anderen Nutzern meines Hauptforums. Das war echt der Hammer! Gerade laufen bei mir zwar wieder die unvermeidbaren selbstentwertenden inneren Attacken ab, aber das ist ja eh nie anders. Es muss wohl noch ein paar Tage sacken, dieses Erlebnis. Jedenfalls habe ich mich dort in Berlin total wohl gefühlt mit den Leuten, und Petra war eine tolle Gastgeberin.

      Für mich war es auch wieder einmal gut, mit den Schicksalen und Persönlichkeiten anderer Betroffener konfrontiert zu werden und außerdem Rückmeldungen bezüglich der eigenen Person zu erhalten. Ich habe mich sehr darüber gefreut, einige zuvor ausschließlich virtuelle Beziehungen realer werden lassen zu können. Und auch Selina, die Tirolerin, die kurz vor Weihnachten bei mir zu Hause gewesen war, sah ich dort wieder. Wir haben verabredet, dass ich sie noch in diesem Sommer besuchen werde.

      Die kompetente kleine Stadtführung von Nina, einem ebenfalls in Berlin ansässigen Forenmitglied, war einfach nur klasse. Starke Gegensätze können reizvoll sein und in Berlin ist das der Fall. Es gab viele kontrastreiche Blickwinkel. Beeindruckt hat mich auch der Hauptbahnhof, in dem man vom Untergeschoss aus hoch über seinem Kopf die Züge einfahren sehen kann.

      In einem größeren U-Bahnhof machte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung, wie eine Menschenmasse riecht. Überhaupt war es ein eigenartiges Erlebnis, sich als Sozialphobiker durch diesen Ameisenhaufen namens Berlin zu bewegen. Es kommen einem zu viele Menschen in zu kurzer Zeit entgegen, als dass sie noch eine Reaktion bei einem auslösen könnten. Und man wird auch selbst durch niemanden wirklich wahrgenommen. Es ist, als wäre man plötzlich unsichtbar. Selbst eher schrille Gestalten lösten bei den übrigen Passanten kein Befremden aus. Diese selbstverständliche Toleranz habe ich ungemein genossen. Am Bahnhof Alexanderplatz lief zum Beispiel jemand mit einem riesigen weißen Papageien auf der Schulter herum und schien - außer von mir - von niemandem beachtet zu werden. Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mir provinziell vor. Es wurde gerade der Christopher Street Day zelebriert. An den Säulen des Brandenburger Tores lagerten erschöpfte Tunten in Mini-Röcken. Der Psycho mit dem Schnauzbart würde in seinem Grab rotieren, wenn er eines bekommen hätte.

      Ich bin zwar froh darüber, jetzt wieder hier in meiner Wohnung zu sein, aber mehr als zuvor bin ich davon überzeugt, dass sie in der falschen Stadt liegt. In Berlin fühlte ich mich sofort heimisch.

      Donnerstag, 28. Juni 2007, 12 Uhr 52

      Gestern in der Selbsthilfegruppe gab es wieder einige erhellende Momente. Diese Gruppe ist - neben der Forenwelt - ein Bereich, in dem ich mein Sozial- und Kommunikationsverhalten trainieren kann. Sie ist ein weiterer Schritt auf dem Weg nach draußen und für mich besser als jeder Therapeut.

      Aus mir unbekannten Gründen war ich wieder total übermüdet. Vielleicht trug dies dazu bei, dass die Symptome meiner Sozialphobie diesmal noch stärker waren als üblich. Aber in dem Umfeld einer Selbsthilfegruppe fällt man nicht gleich dem Spott und Hohn der anderen anheim, wenn man errötet. So kam es also dazu, dass ich zum ersten Mal erleben durfte, wie ich mich aus dem Teufelskreis von Angst und Scham befreien konnte, diese höllische Hitze für die übrige Dauer der Gruppensitzung aus meinem Kopf verschwand. Weil ich mich eben angenommen fühlte. Mein gesamtes Leben lang war ich ausgelacht worden. Und erst dadurch bin ich wohl in diesen Teufelskreis hineingeraten: ständig einen roten Kopf zu bekommen, aus Angst davor, einen roten Kopf zu bekommen.

      Donnerstag, 28. Juni 2007, 16 Uhr 9

       Aufgrund des schönen Wetters heute verlegte ich das Lauftraining um einen Tag vor. Vor etwa zwei Wochen hatte ich meine Strecke spontan und versuchsweise einfach mal glatt verdoppelt - und nach wie vor klappt das so! Heute bewältigte ich das neue Streckenpensum sogar einige Minuten schneller als beim letzten Mal. Allerdings bin ich nicht ehrgeizig, was die Zeiten angeht. Ich versuche immer, die nun neun Kilometer in etwa einer Stunde zu schaffen, ohne zu große Ausschläge nach oben oder unten.

      Ein Lamm hatte sich heute von seiner Weide aus durch ein Loch im Zaun auf den angrenzenden Feldweg gezwängt und fraß dort Grünzeug. Als es meiner gegenwärtig wurde, erschrak es und lief blökend davon. Leider hatte der Zaun kein weiteres Loch aufzuweisen und auf der gegenüber liegenden Seite des Weges befand sich ein Graben. So liefen wir also entlang des Zauns an der Herde vorbei, die dem Kleinen zublökte, was von diesem lautstark erwidert wurde. Was für eine Szene: das Lamm blökend vor mir herlaufend, und wir beide zusammen an der ebenfalls blökenden Herde vorbei!

      Mehrmals hielt ich an, um dem Lamm Gelegenheit zu bieten, an mir vorbei zu kommen und wieder zurückzulaufen, aber es blieb dann ebenfalls bloß immer stehen und lief wieder los, sobald ich das tat. Der Weg zog sich ziemlich in die Länge. Die Herde war längst meiner Wahrnehmung entrückt, da brachte ich es an einem etwas breiteren Wegstück schließlich doch noch fertig, das Schaf zu überrumpeln und an ihm vorbeizuziehen. Es trabte daraufhin zurück nach Hause, weiterhin blökend. Seinen hüpfenden Wollhintern, den es mir die ganze Zeit über präsentiert hatte, werde ich wohl so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

      Freitag, 29. Juni 2007, 19 Uhr 27

      Ich habe hier gerade wieder voll den Hass! Nächste Woche werden mir fünfundsiebzig Euro vom Konto abgebucht, Kontoführungsgebühren und Dispozinsen für ein Quartal. Wie soll das jemals besser werden?

      Montag, 16. Juli 2007, 15 Uhr 33

       Noch vor dem Frühstück fuhr ich am Morgen mit dem Rad zum Hauptbahnhof und holte mir dort Zugfahrkarten für eine Reise nach Österreich. Wie auf dem Forentreffen in Berlin verabredet, werde ich Selina besuchen. Und wie stets vor Bahnfahrten, ergatterte ich mir wieder preislich vergünstigte Vorverkaufstickets, diesmal für einen einwöchigen Aufenthalt in Tirol am Ende des kommenden Monats.

      Die Radfahrt zum Bahnhof war sehr schön. Entsprechend meiner Stimmung strahlte heute der Himmel und die Temperaturen waren um diese Uhrzeit auch noch nicht zu hoch. Das Wetter und meine Vorfreude auf meinen Besuch bei Selina enthoben mich für eine gewisse Weile meines tristen Daseins.

       In letzter Zeit sind meine Flashbacks wieder vermehrt zu einem Thema für mich geworden. Neuerdings fallen sie mich weniger aus meiner Kindheit heraus an,