Aus dem Off. Ruliac Ulterior. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ruliac Ulterior
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752904697
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versahen. Mittlerweile läuft mir ein Frösteln über den Rücken, wenn ich an diese Zeiten zurückdenke.

      Die körperlichen Auswirkungen meiner Sozialphobie, neben einem unbewussten Luftanhalten vor allem das Rotwerden, bestehen ebenfalls weiterhin, auch wenn Letzteres inzwischen geringere Auswirkungen auf mein Verhalten hat. Ich dachte immer, dass die körperlichen Symptome zuerst nachlassen würden und ich dadurch befreiter mit anderen Menschen umgehen könnte, aber nun kommt es anscheinend umgekehrt. Es muss sich da wohl einiges erst noch nach unten durcharbeiten, vom Kopf hinab in den Bauch.

      Samstag, 21. Juli 2007, 22 Uhr 10

      Als ich heute an der Kasse im Supermarkt gerade dabei war, zu bezahlen, erwachte direkt hinter mir in der Schlange so ein typischer Ätzer zum Leben. Es lagen sechs Bierflaschen in seinem Einkaufswagen und eine einzelne Flasche hatte er auf das Fließband gelegt. Die Kassiererin meinte freundlich zu ihm, dass alle Flaschen auf dem Band liegen müssten, auch wenn es sich um die gleiche Sorte handele.

      So weit, so gut. Der Mann hatte eine nachvollziehbare Idee für eine Vereinfachung gehabt, und die Kassiererin hatte ihn darüber informiert, dass dies leider nicht funktionierte. Doch dann ging es los: So etwas habe er ja noch nirgendwo erlebt, heute sei ihm sowieso schon viel gesagt worden in diesem Laden, er werde ganz sicher nicht mehr wiederkommen, polterte er lautstark. Ich konnte mir ein deutlich hörbares «Naja!» nicht verkneifen. Und als die Kassiererin mir das Wechselgeld und den Kassenzettel überreichte, sagte ich ihr lächelnd, dass ich wiederkäme.

      Zuerst lächelte sie lediglich routiniert zurück, erkannte dann aber wohl, dass ich ihr die Rückmeldung hatte geben wollen, dass die Welt nicht nur aus Arschlöchern besteht. Da strahlte sie dann geradezu und bedankte sich.

      Immer öfter überrasche ich mich selbst.

      Freitag, 27. Juli 2007, 14 Uhr 23

      Gestern lag im Briefkasten ein Schreiben von meiner Bank, mit dem zu Anfang August mein Dispokredit gekündigt wurde. Telefonisch konnte ich zwar immerhin erreichen, dass er stattdessen stufenweise monatlich um fünfundfünfzig Euro verringert wird. Aber selbstverständlich stehen die ersten fünfundfünfzig Euro direkt diesen Monat an.

      Als Grund für die Kündigung meines Kredits wurde mir genannt, dass in meiner Schufa-Datei ein negativer Eintrag aufgetaucht sei. Ich kann nur vermuten, dass das mit der kürzlich erfolgten Restschuldbefreiung zusammenhängt. Verdammt, gerade hatte es begonnen, ein wenig aufwärts zu gehen!

      Montag, 6. August 2007, 13 Uhr 42

       Nach wie vor arbeitet es in mir bezüglich meines Selbstbildes und meiner beruflichen Orientierung. Doch während des heutigen Lauftrainings ging plötzlich das Licht an in meinem Kopf und ich konnte einiges sehr viel deutlicher erkennen als zuvor.

      In einem normalen Job käme ich niemals klar. Geistige Unterforderung in Kombination mit sozialer Überforderung, das würde nur wieder dazu führen, dass mein zartes Ich-Pflänzchen niedergetreten würde. Die einzige Arbeitsstelle, an der ich mich jemals wohl fühlte, das war ein Praktikum als Programmierer. Es war vor allem das qualifizierte und eigenständige Arbeiten und das Gefühl, auf ein für mich neues Gebiet vorzustoßen, das mich motivierte.

      Alle anderen beruflichen Tätigkeiten erlebte ich nur als demütigend und zwanghaft. Immer musste ich mich während der Arbeitszeit regelrecht ausschalten. Mein wirkliches Leben fand in der Freizeit statt. Doch eine Leistung nur deswegen zu erbringen, um danach eine erträgliche Freizeit zu haben, das bringt mich um. Solange eine Arbeit mich intellektuell nicht fordert und meine Neugier anspricht, mir nicht die Möglichkeit bietet, meine Grenzen beständig zu erweitern, gehe ich dabei ein.

      Als ich meinem damaligen Psychotherapeuten mal davon erzählte, wie sehr mich das Baugerüst gereizt hatte, das zu jener Zeit an der Kirche gegenüber meiner damaligen Wohnung hochgezogen worden war, dass ich einfach eines nachts nicht mehr anders gekonnt hatte, als diesen Turm hinaufzuklettern, da musste ich zu meinem Erstaunen erfahren, dass diesbezüglich nicht jeder Mensch so ist wie ich. Als ich mich später ein wenig mit dieser Thematik befasste, erfuhr ich, dass es zwei Grundtypen von Menschen gibt: die Gewohntsüchtigen und die Neusüchtigen. Evolutionstechnisch ist das sinnvoll. Es muss jemanden geben, der das Feuer hütet und andere, die nachsehen, was sich hinter dem nächsten und dem übernächsten Hügel verbirgt.

      Das Entdecken eines neuen Kontinents fällt wohl inzwischen als Thema weg. Bleibt für mich also nur das Abitur, gefolgt von einem Studium. Ich will mit dem Kopf arbeiten, ständig meine geistigen Grenzen erweitern. Es ist vor allem die Neugier, die mich antreibt. Es wäre mir gleichgültig, falls ich meinen Studienabschluss erst jenseits der Fünfzig erhielte. Wenn ich auf meinem Sterbebett sagen kann, dass ich wirklich ich geworden bin, dann reicht das zur Not. Angesichts meines äußerst speziellen Starts ins Leben wäre das eine anerkennenswerte Leistung.

       Ob ich dann als Informatiker abtreten würde, das ist allerdings eine andere Frage. Meine Ambitionen bezüglich des Drehbuchschreibens liegen derzeit zwar auch weiterhin auf Eis. Doch ich will mein Dasein nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß von den Computern beherrschen lassen. Die Welt ist größer als fünfzehn Zoll.

      Die Rentenversicherung sähe in dem Versuch, das Abitur nachzumachen, keinen Grund, eine Erwerbsunfähigkeit anzuzweifeln. Und vielleicht würde ich mir durch einen dreijährigen Schulbesuch genug soziale Kompetenz für meinen weiteren Weg aneignen können. Doch in Aachen gibt es kein Oberstufen-Kolleg für Erwachsene. Lediglich im Nachbarort Würselen existiert eines. In den achtziger Jahren hatte ich dort schon einmal einen Anlauf gemacht, war aber bereits am ersten Semester gescheitert. Im Frühling des vergangenen Jahres bewarb ich mich erneut an diesem Kolleg und wurde sogar angenommen. Mein Antrag auf eine finanzielle Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - kurz BAFöG - wurde jedoch auf dem dafür zuständigen Amt abgelehnt. Grundsätzlich wäre eine solche Förderung zwar möglich gewesen, wobei meine Rente, aufgrund ihrer geringen Höhe, auch gar nicht als Einkommen angerechnet worden wäre. Doch nach dem dreißigsten Lebensjahr erhält man kein BAFöG mehr.

      Unter diesen Umständen waren die Monatskarten für die Busfahrten zu dem in einem anderen Ort liegenden Kolleg für mich nicht finanzierbar. Zudem wäre ich wegen meiner Sozialphobie sowieso auf Dauer überfordert gewesen damit, täglich für insgesamt zwei Stunden mit Menschen in einem vollen Bus zusammengepfercht zu werden. In Berlin sind dagegen eine ganze Reihe von Kollegs angesiedelt. Das wäre ein weiterer Grund, dorthin umzuziehen.

      Montag, 6. August 2007, 16 Uhr 8

       Wie schon des Öfteren in letzter Zeit, habe ich soeben erneut feststellen müssen, dass das Radfahren meinem Knie nicht gut tut. Sowohl beim Anwinkeln des Beines als auch beim Strecken unter Last habe ich Schmerzen hinter der Kniescheibe. Es hat keinen Sinn, das weiter zu ignorieren. Ich glaube, das Radfahren lasse ich vorläufig lieber sein.

      Von jetzt an werde ich alles zu Fuß erledigen. Nur für die beiden Treffen der Selbsthilfegruppe jeden Monat werde ich mir jeweils eine Tageskarte für den Bus holen. Auch zum Kampfsport könnte ich zu Fuß gehen. Aber über den brauche ich mir sowieso derzeit keine Gedanken zu machen.

      Mittwoch, 8. August 2007, 20 Uhr 59

      Eben bin ich aufgrund einer Bewerbung von mir zu einem Moderator meines Hauptforums ernannt worden. Die Aufgabe eines Moderators ist eigentlich die Vermittlung bei Konflikten unter Forennutzern. In der Praxis muss man aber auch administrative Tätigkeiten übernehmen und außerdem überall dort eingreifen, wo Probleme entstehen, zum Beispiel wenn ein Nutzer sich nicht an die foreninternen Verhaltensregeln hält. Vor allem der letztgenannte Punkt birgt Sprengstoff, erst recht in einem Forum voller Borderliner. Doch ich bin froh darüber, endlich mal wieder ein bisschen Verantwortung übernehmen zu können.

      Donnerstag, 23. August 2007, 6 Uhr 30

       Gleich werde ich mit dem Zug zu Selina nach Tirol abfahren. Bereits