So weit so gut.
Aber:
Warum fürchteten wir die Opreju so sehr, wo wir sie doch besiegt und verjagt hatten?
Weshalb wagte sich annähernd zwei Jahrhunderte niemand mehr an den Wiederaufbau der zurückeroberten Gebiete im Süden Aotearoas, namentlich in Otago und der Grenzregion Ergelad?
Und vor allem: Wie kam es zu dem Tabu, das es den doch so siegreichen Menschen verbat, den Skelettfluss zu überqueren, die Grenze zwischen Ergelad und Laurussia, dort wo einst die Uhleb siedelten und das sich nun in der Hand der Opreju befand?
Das Tabu schütze die Menschen, lautete die unbefriedigende Antwort. Solange kein Mensch den Boden Laurussias betrete, sei der Frieden gewahrt. Aber von wem waren diese Bedingungen ausgehandelt worden? Von den Menschen, den Siegern? Wie Sieger benahmen sich die Siegreichen jedenfalls nicht. Das Tabu hingegen schien allerdings durchaus Sinn zu machen, denn seit Generationen war der Frieden gewahrt, hatte kein Mensch mehr einen Opreju zu Gesicht bekommen. Unten im Süden Aotearoas, am Skelettfluss, endete dafür die Welt der Menschen und begann die der Opreju.
So einfach war das.
Glasklar.
Jedoch, einige wussten hinter vorgehaltener Hand vom Gegenteil zu berichten. Wie oft das Tabu seit Ende des Krieges schon gebrochen worden war, konnte niemand genau sagen. Aber es war mit Sicherheit gebrochen worden, daran gab es wenig Zweifel. Beweisen ließ es sich schlecht, und dagegen sprach auch die Tatsache, von den gefürchteten Folgen noch nichts gespürt zu haben.
Letzten Endes übernahmen wir nach außen hin das Verhalten der Älteren und akzeptierten das Tabu. Immerhin schützte es uns unzweifelhaft seit Jahrhunderten, aus welchem Grund also daran rütteln? Die Zweifel hingegen hielten sich. Mich beschlich bereits im zarten Knabenalter der Verdacht, unsere Lehrer glaubten vieles selbst nicht, was sie lehrten. Nun hielt ich zum ersten Mal Aufzeichnungen in den Händen, die die Geschichte Gondwanalands anders beschrieben. Wenig passte zu dem, was mir gelehrt worden war.
Anfangs wirkten die anerzogenen Mechanismen. Ich wehrte mich gegen das vielfach unverständliche Gekritzel und zog es ins Lächerliche. Eine durchaus nachvollziehbare Reaktion, zu utopisch und phantastisch klang all das, was ich in mich hineinschlang. Wenn es mir schon abwegig vorkam, wie würde Rob erst darauf reagieren? Grotesk. Absurd. Welch krankes Gehirn diese Märchen wohl ersonnen hatte? Absolut unglaubhaft. Genau so dachte ich zu Beginn. Doch schon bald setzte sich stückweise die Überzeugung durch, hier etwas Revolutionäres in den Händen zu halten, etwas, das keiner blühenden Phantasie entsprungen sein konnte. Diese Ansicht vertiefte sich mit jeder Zeile, die ich zu entziffern in der Lage war.
Beim letzten Abendessen am Lagerfeuer vor dem Höhleneingang beschloss ich mein Schweigen gegenüber Rob zu brechen. Er selbst hatte seine Aufmerksamkeit nur den Landkarten gewidmet, jedoch schnell das Interesse verloren und sich wieder voll und ganz dem Boot zugewandt. Nun kannte ich Rob gut. Sein unbändiger Wissensdrang ließ sich sehr wohl mit meinem gleichsetzen. Anders als ich hatte er jedoch zu keiner Zeit Spaß am Lesen empfunden und dementsprechend unterentwickelt blieben seine Fertigkeiten. Er schämte sich schlicht und einfach dieser Tatsache und überließ mir daher kampflos das Feld. Nicht eine Minute forderte er Unterstützung bei der Reparatur des Bootes ein. Offensichtlich wollte er mir die nötige Zeit geben, mir ein genaues Bild zu machen, um mich später haarklein auszufragen. Diese in seinen Augen zweitklassige Arbeit ließ er mich nur zu gerne machen.
Wo aber würde ich beginnen? Wie sollte ich es bewerkstelligen, etwas glaubhaft zu berichten, das so unerhört klang? Zu verwirrend präsentierten sich die Eindrücke meiner Lesewut, als dass ich gewagt hätte, Rob auch nur etwas davon guten Gewissens zu erzählen. Er stellte auch keine Fragen, schien abwarten zu können.
Handflächengroße, auf Holzstecken gespießte Krebse brieten knisternd im offenen Feuer. Auf einem heißen Stein brutzelten aufgeschlagene Möweneier. Es roch verführerisch. Rob nahm einen orangeroten Krebs aus den Flammen und brach die enormen Scheren auf. In langen zähen Fäden tropfte das flüssige, blassrosa Fleisch aus den geborstenen Schalen.
„Also schieß mal los! Was hast du so alles in Erfahrung gebracht?“ fragte er endlich betont beiläufig.
Ich knackte nachdenklich eine Krabbenschere. Tja, wo anfangen? Wie sollte ich ihm glaubhaft klarmachen, dass unsere Vorfahren vor exakt sechshundertzweiundzwanzig Jahren mit einem Gefährt namens „Britannic“, das in der Lage war, durch den Weltraum zu reisen, hier auf Gondwana angekommen waren? 1521 Menschen, freie Siedler, um genau zu sein. Gestartet von einem Planeten namens Vestan, winziger Teil einer ewig weit entfernten Galaxis, einem Sternenhaufen, wie ich gelernt hatte, der sich „Vokutai“ nennt. Auf der Suche nach neuem Lebensraum. Fündig geworden im sogenannten Pagodennebel nach 752 Jahren, vier Monaten und siebenundzwanzig Tagen nach dem sogenannten Erdkalender, demzufolge ein Erdenjahr aus exakt dreihundertfünfundsechzig Tagen bestand. Begriffe wie Tag, Monat oder Jahr waren mir nicht fremd. Ein Gondwanajahr besteht aus zehn Monaten. Ein Monat wiederum aus vierzig Tagen. Der Erdkalender hielt sich wie es aussah an komplett andere Gesetzmäßigkeiten. Wie auch immer, ich sah darin nichts überaus Ungewöhnliches, im Gegenteil, gerade Details wie diese halfen dabei, die Glaubwürdigkeit des Gelesenen näher zu bringen. Komplizierter gestaltete sich schon die Tatsache, annehmen zu müssen, ein Fremdkörper auf Gondwana zu sein, ein Eindringling, ja Störenfried. Was würde Rob davon halten?
Planlos begann ich zu erzählen. Von der ersten Siedlung namens Willer am Willersee, benannt nach einem ranghohen Offizier der „Britannic“, Philip Willer. Von der Namensgebung in Anlehnung an die Planeten Erde und Vestan, von denen die Menschheit stammte. Viele Bezeichnungen waren von dort übernommen worden. Sämtliche Inseln der Bay of Islands zum Beispiel. Radan, wo wir uns gerade befanden, hieß ursprünglich eine Großstadt auf Vestan. Auckland, die Nachbarinsel, trug den Namen einer Stadt auf der Erde. Die December Bay hatte ihren Namen aufgrund der simplen Tatsache erhalten, dass im Dezember des Jahres 0 die menschliche Zeitrechnung auf Gondwana begonnen hatte. Gonwana selbst, unser Heimatplanet, war nach einem Kontinent jener ominösen Erde benannt. Verwirrend auch eine Sternenkarte, die mich ungleich faszinierte. Sie zeigte unser Sonnensystem mit den mir bekannten sechs Planeten. Doch in der Karte waren sieben eingezeichnet. Ein unbekannter mit dem annähernd unaussprechlichen Namen „Pangäa“ hatte sich dazugesellt.
Rob hörte wortlos zu. Er aß äußerlich unbeeindruckt weiter, doch sah ich ihm die innere Anspannung an. Bei der entbrennenden Diskussion um das Sternenschiff Britannic fiel die Spannung allerdings von ihm.
„So ein Blödsinn“, lachte er kopfschüttelnd und teilte die inzwischen kalt gewordenen Vogeleier brüderlich auf. „752 Jahre! Kein Mensch lebt auch nur einen Bruchteil dieser Zeitspanne. Welch gestörter Geist muss sich diese Verrücktheiten ausgedacht haben? Schiffe, die durch das Weltall fliegen! Ein siebter Planet! Pah! Ich dachte, du würdest jetzt etwas Interessantes erzählen. Aber diesen Quatsch habe ich nicht erwartet.“
Ich musste unwillkürlich grinsen. „Glaubst du, etwa ich? Klingt alles ziemlich unglaubwürdig, nicht wahr?“
„Am besten du schmeißt das ganze Geschmier ins Meer, dann ist es wenigstens noch als Fischfutter zu etwas zu gebrauchen.“ Sein Interesse flammte aber erneut auf, als ich von den Opreju berichtete.
„Die Opreju stammen also gar nichts aus Fennosarmatia?“
„So steht es hier geschrieben.“ Ich hielt ihm ein schmutzig-grünes Buch hin, das ich mir heute am späten Nachmittag vorgenommen hatte. Er ignorierte es.
„Wenn nicht, woher kommen sie dann?“
„Nun, es wird Travorsa erwähnt, als die Insel der Opreju.“
„Travorsa? Die Toteninsel?“ Robs Augen funkelten. Wir waren beide noch nie auf Travorsa gewesen, lag sie doch bereits in der Tabuzone. Aus Erzählungen wussten wir jedoch von ihr. Sie wurde