Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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war es zu spät.

      Ich hatte gesehen, was ich gesehen hatte.

      Das Wissen, auf etwas Ungewöhnliches gestoßen zu sein, auf etwas, das einfach nicht hierher gehörte, ließ mich fortan nicht mehr los. Was mochte sich hinter der steinernen Mauer befinden? Radan war, soweit ich es wusste, nie von Menschen besiedelt worden; besucht ja, lag die Insel doch direkt vor der Haustür Avenors und damit im unmittelbaren Einzugsbereich von Stoney Creek. Womöglich waren Rob und ich nicht die ersten, die diese Kaverne vorübergehend als Behausung nutzten. Durchaus denkbar, dass es vorher schon Menschen hierher verschlagen hatte. Es juckte mich, ins Dunkle hineinzukriechen, aufs Geratewohl zu versuchen, die steinerne Mauer mit den Händen zu ertasten. Doch ich blieb liegen. Ich wollte erst meinem Bruder davon berichten.

      Rob kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Ebrod, der größere der beiden Monde Gondwanas, war inzwischen in seiner ganzen Pracht über dem Meer aufgezogen. Sein mystisches Licht tauchte die noch junge Nacht in geheimnisvoll blauen Glanz. Wenig bekam ich davon mit. Innerhalb der Höhle war es schon längst stockdunkel.

      „Jack! Schläfst du? Bist du hungrig?“

      „Wie ein Tier.“

      „Ich befürchte, es gibt nicht viel. Steht dir der Sinn nach Tichinas?“

      „Nicht unbedingt. Aber besser als ein weiterer Schlag auf den Kopf.“ Ich stand auf und schwankte nach draußen. Erleichtert stellte ich fest, das Schwindelgefühl bereits wieder im Griff zu haben. Rob saß eingehüllt in Mondlicht vor dem Höhleneingang und schnitt Tichinas auf.

      „Geht es dir besser? Was macht das Köpfchen?“ erkundigte er sich. „Setz dich! Du musst etwas zu dir nehmen.“

      Artig nahm ich neben ihm Platz. Mein Bruder reichte mir eine geschälte Tichina, die ich protestierend entgegennahm.

      „Du musst mich nicht füttern! Ich bin ja kein Krüppel.“

      Rob überging die Bemerkung.

      „Ich war hinter einem jungen Moa her, aber leider hatte ich kein Glück. Sonst gäbe es jetzt einen Festschmaus.“

      Der Gedanke an das saftige Fleisch eines am offenen Feuer gebratenen Moas ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Stattdessen mussten wir uns mit leicht faulig schmeckenden Tichinas zufrieden geben, die aufgrund ihres faserigen Fleisches nicht gerade zu meinem bevorzugten Obst zählen. Sogar in reifem Zustand schmecken sie einfach zu bitter. Süße Bodisaven wären mir eindeutig lieber gewesen.

      Eine Tichina zu schälen bedeutet nicht gerade wenig Arbeit, sitzt ihre Schale doch fest am Fruchtfleisch, besonders bei noch etwas unreifen Exemplaren. Zudem lohnt die Mühe nicht sonderlich. Das größte an Tichinas ist ihr riesiger Kern, der beinahe die gesamte Frucht ausmacht. Dennoch war ich dankbar, überhaupt etwas in den knurrenden Magen zu bekommen und beschwerte mich nicht weiter. Nachdenklich kaute ich auf der Frucht herum. Was mochte sich hinter den aufgeschichteten Steinen befinden? Ich brannte darauf, Rob davon zu erzählen.

      „Das Segel ist in schlechterem Zustand als ich annahm“, erzählte mein Bruder. Seine Stimme klang aber zuversichtlich. „Wir haben zwar nichts hier, um es zu flicken, aber ich denke, es wird auch so gehen. Wir müssen uns eben mit stark verminderter Segelfläche auf den Weg machen.“

      Ich konnte es nicht länger zurückhalten.

      „Ich hatte Gelegenheit, die Höhle genauer zu untersuchen, Rob.“

      Der kaute ohne aufzusehen unbeeindruckt weiter. „Und?“

      „Im hinteren Teil befindet sich ein Wall aus aufgeschichteten Steinen. Ungewöhnlich, nicht wahr? Leider wurde es zu dunkel, bevor ich mir das ganze genauer ansehen konnte.“

      Rob hielt inne.

      „In der Tat kurios“, fand er. „Gemauert?“

      „Ich weiß es nicht. Sah so aus.“

      „Wir können es ja morgen bei Tageslicht einmal ansehen.“ Damit war das Thema für ihn erledigt und er widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder den Tichinas. Mit etwas Abstand betrachtet glaubte auch ich nicht mehr an etwas Besonderes im Zusammenhang mit meiner Entdeckung.

      Wie sehr ich mich täuschen sollte.

      Am nächsten Morgen machten wir uns daran, meine Entdeckung genauer unter die Lupe zu nehmen. Es drang genug Helligkeit ein, um den größten Teil der Höhle mit Licht zu fluten. Das Mauerwerk jedoch war raffiniert angelegt worden. Es lag im Schatten einer vorspringenden Felsnase, die es vor neugierigen Blicken schützte. Selbst jetzt, direkt davor stehend, war es kaum auszumachen.

      „In der Tat faszinierend“, sagte Rob. „Es ist tatsächlich gemauert. Allerdings nicht sehr fachmännisch, wenn du mich fragst.“ Er tastete die mannshohe, etwa zwei Körperlängen breite steinerne Wand mit den Händen ab. Ich tat es ihm gleich. Der Mörtel zwischen den Steinen stand teilweise fingerdick hervor und bröckelte uns bei der leisesten Berührung entgegen. „Diese Wand ist in Eile hochgezogen worden. Und nicht erst gestern.“

      „Auch nicht erst vorgestern. Diese Arbeiten hier wurden vor langer Zeit verrichtet. Das erinnert mich an die Überreste von Van Dien. Erinnerst du dich an die Jahrhunderte alten Ruinen? Die Reste der Grundmauern waren in so schlechtem Zustand, man konnte sie mit dem kleinen Finger zum Einsturz bringen. Beinahe so wie hier.“

      Rob nickte.

      „Du hast Recht, Jack. Diese Mauer ist uralt.“

      Wir wechselten gespannte Blicke. Trotz des schlechten Lichts sah ich Robs Augen funkeln. Auch seine Neugier war geweckt, und wenn etwas nicht zu unterdrücken war, dann sie.

      „Wir brauchen mehr Licht.“ Ohne weitere Worte stand für mich fest, die Mauer abzutragen, auf welche Weise auch immer. Und ich wusste genau, Rob war meiner Meinung.

      „Wir haben kein Licht“, erwiderte mein Bruder mit aufkommender Ungeduld in der Stimme. „Unsere Fackeln und Kerzen liegen auf dem Meeresgrund. Wie auch immer, wir werden diese Wand erst einmal einreißen, dann sehen wir weiter. Sieht ohnehin nicht mehr sonderlich stabil aus. Ein paar Tritte genügen unter Umständen. Geh ein Stück zurück! Es könnte sein, dass das Teil nicht zusammenbricht sondern im Ganzen umkippt.“

      Typisch Rob! Natürlich übernahm er sofort das Kommando und drängte mich in die Rolle des Zuschauers. Ich wollte widersprechen, besann mich aber eines anderen und trat wie verlangt ein paar Schritte zurück. Womöglich war es besser, ihm den Vortritt zu lassen. Ich war noch angeschlagen und körperliche Arbeit mit Sicherheit nicht die richtige Rezeptur zu schnellstmöglicher Genesung.

      Rob machte sich sofort an die Arbeit. Zunächst versetzte er der maroden Wand einen gezielten Tritt, der sie erzittern ließ. Teile des protestierenden Mauerwerks bröckelten ab. Auch klang es, als hätten erste Steine begonnen, sich aus ihrer Verankerung zu lösen.

      „Die widersteht nicht lange“, kommentierte er seinen ersten Versuch. „Ein paar weitere Tritte müssten das übrige tun.“

      Und so war es auch. Nach vier weiteren Gewaltakten gegen das spröde alte Mauerwerk, stürzte es ohne jede weitere Vorwarnung in sich zusammen. Rob hatte bereits zum nächsten Schlag angesetzt, als er die Bewegung in der einstürzenden Mauer wahrnahm und stattdessen einen Satz nach hinten machte. Mit letztem dumpfem Ächzen kollabierte die Jahrhunderte alte Arbeit. Das Zusammenstürzen der vielen Steine nahm nur wenige Augenblicke in Anspruch und verursachte dabei überraschend wenig Lärm. Unangenehmer war da schon die Staubwolke, die sich explosionsartig in der ganzen Höhle ausbreitete und uns hustend nach draußen zwang.

      Rob grinste mich triumphierend an. „Na, wie habe ich das gemacht?“

      „Wie ein echter Fachmann. Ich dachte die ganze Höhle stürzt über unseren Köpfen ein.“

      „Jetzt müssen wir nur noch warten, bis sich der Staub etwas gesetzt hat. Dann werden wir sehen.“

      Endlos lange Minuten verstrichen, bevor wir uns erneut in das Innere der Höhle wagten. Die Luft flimmerte von Tausenden herumfliegender Partikel. Das Mauerwerk war in der Mitte