„Ich gehe rein“, sagte ich kurz entschlossen und schlüpfte, bevor Rob noch etwas einwenden konnte, durch die Öffnung. Etwas zu übereilt, denn prompt stolperte ich über im Dunkel verborgene Mauerreste und schlug der Länge nach hin. Robs höhnisches Gelächter schmerzte mehr als das aufgeschlagene Knie.
Mit beiden Händen untersuchte ich, worauf ich gefallen war. Es fühlte sich weich und krümelig an wie ein Haufen vermodernder Holzpflöcke und klapperte hohl unter meinen forschenden Fingern. Unheimlicher Verdacht beschlich mich, welcher sich schnell bestätigte.
Ich lag auf den sterblichen Überresten eines Toten.
Mit einem heißeren Schrei warf ich mich nach hinten und rutschte auf allen Vieren von meinem grausigen Fund weg in Richtung Rob, der noch immer am Eingang stand und mich verständnislos beobachtete.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte er, während ich auf ihn zurobbte.
„Da drin liegt ein Skelett“, brachte ich angewidert hervor.
Rob ließen diese Neuigkeiten kalt.
„Ja und? Ein Skelett kann dir doch nichts tun. Jetzt nimm dich mal zusammen!“ Kopfschüttelnd marschierte er hinein, wich der Stolperfalle aus, die mich ins Straucheln gebracht hatte, und verschwand aus meinem Blickfeld. Es knackte nur leicht, als die alten Knochen des Toten unter seinen beschuhten Sohlen barsten.
„Und?“ rief ich, wenig gewillt ihm zu folgen. „Kannst du was erkennen?“
Gedämpftes Rascheln, als wühlte jemand in reichlich Papier. Ohne ein Wort Robs flogen die ersten Objekte, derer er habhaft wurde, wie aufgescheuchte Vögel aus der Öffnung heraus.
„Sieh selbst“, rief er, die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen könnend. Ich zog den Kopf ein und wich einem der Geschosse aus, das verdächtig einem Buch ähnelte, nur um vom nächsten mitten im Gesicht getroffen zu werden. Bei der Kollision löste sich der lederne Einband und hunderte von vergilbten Blättern landeten lose in meinem Schoß. Ein weiterer Umschlag rauschte dicht am Ohr vorbei und knallte lautstark gegen die Höhlenwand.
„Hey, Rob, was soll das?“ rief ich ungehalten. „Hör auf damit! Du machst ja alles kaputt!“
„Nur alte Schriften. Alte Schriften und ein Skelett. Ich weiß nicht, was ich jetzt aufregender finden soll.“
Die Unzufriedenheit meines Bruders konnte ich ganz und gar nicht teilen. Schriftliche Aufzeichnungen zogen mich stets in ihren Bann, vielleicht deswegen, weil es nur so wenige davon gab. Und während Rob stapelweise Schriften heranschleppte und sie deutlich behutsamer in meiner Nähe deponierte, blätterte ich ehrfürchtig durch die ersten Seiten. Die Lichtverhältnisse erwiesen sich jedoch als gänzlich ungeeignet um irgendetwas entziffern zu können, also verzog ich mich mit meinem Schatz nach draußen.
Nun war es an mir, enttäuscht zu sein. Hunderte Seiten fleckiger, vergilbter und zum Teil vergammelter Schriften, geschrieben in einer Sprache, die ich nicht verstand. Faszinierend allein die Handschrift, mit vielen schwungvollen Bögen, die, auch wenn eindeutig erkennbar zuweilen hastig geschrieben, nie ihre kontinuierlich klare Gestalt verlor. Mit der gebotenen Vorsicht, das angegriffene Material nicht noch weiter zu ruinieren, schlug ich Seite um Seite um, in der Hoffnung irgendwann auf Textzeilen zu stoßen, die ich zu entziffern in der Lage war. Doch dieser Wunsch erfüllte sich zunächst nicht.
„Noch irgendwas anderes?“ fragte ich Rob, der begonnen hatte, sämtliche Funde vor die Höhle zu tragen und zu Haufen aufzuschichten.
Er schüttelte den Kopf.
„Bis jetzt nicht. Weißt du, was ich glaube? Das ganze Zeug ist in der Endphase des Großen Krieges von Stoney Creek aus hierher geschafft worden, um es vor der Vernichtung durch die Opreju zu bewahren.“
Sofort misstraute ich dieser Theorie.
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, wer nimmt sich die Zeit, irgendwelche Aufzeichnungen hier einzumauern, wenn der Feind vor der eigenen Haustür steht.“
„Nun, dass es sich hier offenbar um wichtige Dokumente handelt, dürfte außer Frage stehen, oder denkst du, der arme Kerl da drin hat sich für nichts ermorden lassen?“
„Du willst sagen, er ist getötet worden?“
„Davon gehe ich aus. Wer lässt sich schon bei lebendigem Leib einmauern? Wer immer er war, er musste sterben, damit dieses Versteck geheim bleiben konnte.“
Ich nickte nachdenklich. „Klingt plausibel. Das bedeutet aber auch, dass es noch jemand gegeben hat, der um diesen Ort wusste.“
„Natürlich“, führte Rob mein Gedankenspiel fort. „Derjenige, der die Mauer hochgezogen hat. Der Mörder.“
Wesentlich respektvoller wandte ich mich einem der Stapel zu, die Rob aufgeschichtet hatte. Wenn seine Annahme stimmte und der Tote in der Höhle tatsächlich wegen jener Dokumente das Leben verloren hatte, mussten sie bedeutend sein – oder waren es wenigstens einmal gewesen.
„Bis jetzt werde ich nicht schlau aus dem ganzen. Alles geschrieben in fremdartiger Sprache.“ Wahllos griff ich nach einem großformatigen ledernen Umschlag, der sich in noch schlechterem Zustand befand als der erste. Der Inhalt bestand aus allerlei schwer lädiertem Kartenmaterial, welches vor Ewigkeiten mit Wasser in Berührung gekommen sein musste.
„Sieht aus wie eine Sammlung von Landkarten“, murmelte ich und gab es Rob weiter, der sich mehr für Pläne und dergleichen interessierte.
„Das sind detaillierte Karten von Aotearoa“, rief er fasziniert aus. „Vater besitzt eine kleine Sammlung alter Landkarten von Gondwanaland. Diese hier sind ähnlich, nur in größerem Maßstab. Und detaillierter. Sieh mal, sogar welche von der Bay of Islands. Apago, Wentland, Ewas, Radan, ich erkenne sie genau wieder. Nur stehen hier völlig andere Bezeichnungen neben den Inseln. Radan heißt hier – ich kann es kaum entziffern – ‚Eyllo-essudi’ oder so ähnlich. Die Namen für jede Insel beginnen mit ‚Eyllo’…“
Ich hörte ihm nur mit einem Ohr zu, hatte ich mich doch bereits anderen Aufzeichnungen zugewandt, begierig, endlich welche zu finden, die ich auch lesen konnte. Es sollte einige Zeit dauern, bis ich auf etwas stieß, was in verständlicher Sprache geschrieben war, doch ich wurde schließlich fündig. Es handelte sich um eine kleinformatige, vom Zahn der Zeit angenagte Sammlung loser Blätter, beschrieben mit verblasster, grünlich-grauer Tinte. Zwei Umschlagseiten aus altem zerbröckelndem Leder umgaben mehr oder weniger schützend den zerfallenden Inhalt von schmutzig-gelbem, pergamentartigem Papier. „Na also!“ rief ich erleichtert. „Sieh mal, endlich Aufzeichnungen in unserer Sprache. Sieht aus wie ein Tagebuch.“
Was ich in den Händen hielt, sollte das Bild von der Welt, in der wir lebten seit wir denken konnten, für immer verändern.
02 VERGANGENHEIT
Gondwana war jahrhundertelang eine friedliche Welt gewesen. Neben den Menschen existierten auf meinem Heimatplaneten nur zwei weitere, höher entwickelte Lebensformen. Eine davon waren die Uhleb, humanoide Kreaturen von kleinem Wuchs und ebensolchen Bedürfnissen. Das Volk der Uhleb besiedelte einst weite Teile Gondwanalands. Wann und warum es sich teilte, und welcher Teil das angestammte Gebiet (das die Menschen schlicht „Uhleb“ nannten) verließ, um neue Siedlungen im Norden zu gründen, liegt im Dunkeln. Fest steht unwiderlegbar, wo sie sich erfolgreich niederließen: Anfangs in den fruchtbaren Gebieten zwischen den Hügeln von Ithra und dem Fluss Sokwa. Später siedelten sie auch westlich davon und erreichten die südlichen Ausläufer des Zentralmassivs, einer Klimagrenze, die den flächenmäßig um ein Vielfaches kleineren und kühleren Nordostzipfel des Kontinents vom heißen, trockenen Süden trennt. Abschließend stießen sie in den regenreichen und