„Tja, liegt wohl in der Familie“, gab ich augenzwinkernd zu.
Krister Bergmark stand vor mir, wie ich ihn seit Jahr und Tag kannte. Ein breites, kantiges Gesicht, auf dem stets ein spöttisches Lächeln lag. Blitzende eisblaue Augen, die jetzt schelmisch zwinkerten. Tief gebräunte Haut. Ein ungezähmter, von der Sonne gebleichter Blondschopf. Wie immer trug er ein ziemlich ramponiert aussehendes kupferfarbenes Leinenhemd, das den Blick auf muskulöse Oberarme freigab. Die Arme eines Mannes, der harte Arbeit gewohnt war. Obwohl nur ein Jahr älter als Rob, wirkte mein Bruder neben Krister wie ein Jungspund. Womöglich waren es die markanten Gesichtszüge, die Krister älter wirken ließen, als er tatsächlich Jahre zählte.
Ich begrüßte Scott Adair mit Handschlag. „Nicht schlecht, euer Fang“, sagte ich anerkennend.
Scott nickte heftig. Seine hellen Augen strahlten. Er war ein paar Jahre jünger als ich, einen Kopf kleiner, semmelblond, mager aber nicht dürr und ungeheuer drahtig. Ein unverständliches Grunzen entrann seiner Kehle, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Scott war von Geburt an so stumm wie die Fische, die er fing. Und Kristers bevorzugter Partner beim Fangzug. Auf die Frage, wie er es manchmal tagelang auf See aushielte mit einem Begleiter, der nur heiser krächzen konnte, antwortete Krister einmal treffend: „Er spricht kein Wort. Ich liebe ihn.“
„Darf ich nochmals fragen, wo ihr gewesen seid? Nicht, dass es mich sonderlich interessiert, aber es bedeutet schon was, Besuch von eurem alten Herrn zu bekommen. Ich hatte ja schon immer eine Schwäche für diesen bärbeißigen Ausbund an Freundlichkeit.“ Krister tat, als müsste er sich übergeben, bevor er fortfuhr. „Leider konnte ich ihm keine befriedigende Antwort geben. Ihr habt euch ja ohne abzumelden verzogen. Macht man das?“
Rob und ich wechselten kurze Blicke, bevor mein Bruder eine Erklärung abgab, deren eingewebte Lüge so flüssig über die Lippen kam, dass ich ihn restlos bewunderte – und gleichzeitig abgrundtief verachtete.
„Wir waren draußen an der Tiefen Rinne. Ein Sturm zwang uns rüber nach Auckland. Wir können uns glücklich schätzen, das Boot nicht verloren zu haben, von unserem Leben gar nicht zu sprechen. Solche Wellenberge habe ich noch nie erlebt. Ist hier alles glatt gegangen?“
Krister sah ihn verständnislos an. „Was sagst du da? Ein Sturm? Komm, Junge, hast du dir das Hirn angeschlagen oder Jack? Mir musst du keine Märchen erzählen, spar dir das für deinen alten Herrn auf. Aber denk dir was Besseres aus.“
Nun war es an Rob und mir, ihn verständnislos anzublicken.
„Was meinst du damit, ich soll mir was Besseres ausdenken?“
Der Spott in Kristers Lächeln war nie ausgeprägter. „Von welchem Sturm sprichst du? Wir haben seit neun Tagen bestes Wetter.“
„Du sagst also, hier gab es keinen Sturm?“
„Nicht einmal eine Brise, stimmt’s, Scott?“
Scott nickte zustimmend.
„Erzähl keinen Blödsinn, Krister! Keine zwanzig Meilen nördlich von hier geht die Hölle eines Unwetters runter und hier kriegt man nichts davon mit? Das kannst du deiner Großmutter weismachen, wenn du willst, aber nicht mir. Das war ein ausgewachsener Orkan von einer Intensität, wie ich sie noch nicht erlebt habe, und wir wären beinahe draufgegangen. Also komm mir nicht mit so einem Scheiß!“ Rob war unversehens laut geworden. Und zu keinerlei Späßen mehr aufgelegt, wie es unzweifelhaft schien.
„Okay, Junge, beruhig dich. Ist alles gut. Aber du kannst dich auf den Kopf stellen und in die Hände klatschen und doch gab es hier keinen Sturm.“
„Das ist völlig unmöglich“, schaltete ich mich nun ein. „Denkst du, ich schlage mir den Schädel ohne Not zu Bruch? Es war gegen Mittag vor drei Tagen. Aus dem Nichts erschien diese pechschwarze Wolkenwand, es wurde finsterste Nacht um uns herum. Und wenn wir nicht dieses verdammte Riesenglück gehabt hätten und auf Radan...“ Robs Ellenbogen traf mich zu spät in die Rippen. Und natürlich nicht unbemerkt.
„Na, da haben wir uns wohl nicht genügend abgesprochen?“ grinste Krister, als hätte er zwei kleine Jungs beim Lügen ertappt. „Alles in Ordnung, Rob, kein Grund zum Heulen. Ich werde niemandem etwas verraten.“
Rob sah mich fragend an. Mit unmerklichem Nicken bestätigte ich seinen Verdacht. Eine schwarze Träne bahnte sich ihren Weg aus dem linken Auge. Wortlos wandte er sich ab und kehrte auf unser Boot zurück. Krister und Scott sahen ihm erstaunt nach.
„Und hier gab es in der Tat kein Unwetter?“ fragte ich nochmals und stiftete damit noch mehr Verwirrung.
Krister und Scott schüttelten synchron den Kopf.
„Danke.“ Damit hangelte ich mich ebenfalls auf unser Boot zurück. Rob saß steif am Ruder, während ich das Segel setzte.
„Euer Boot sieht jedenfalls so aus, als hättet ihr mächtigen Sturm hinter euch“, hörte ich Krister rufen. „Ein lokales Unwetter vielleicht? So etwas gibt es.“
Robs Kopf ruckte in seine Richtung wie der einer Mantis, die Beute erspäht hatte. „Niemals. Ein Tiefdruckgebiet von diesem Ausmaß, mit einem Wellengang, den ich meinen Lebtag noch nicht gesehen habe – und hier merkt keiner etwas? Das ist unmöglich.“
03 SCHWARZE TRÄNEN
In Stoney Creek leben mehr oder weniger fünfhundert Seelen. Im Vergleich mit den zwei weiteren Siedlungen Avenors ist mein Heimatdorf das mit Abstand kleinste.
Cape Travis, die nächstgelegene Stadt, gute drei Tage Fußmarsch östlich gelegen, verfügt bereits über die zehnfache Anzahl an Bevölkerung.
Die Hauptstadt Van Dien, an der azurblauen Moabucht gelegen, kann noch mit zweitausend zusätzlichen Einwohnern aufwarten und stellt damit die größte Stadt Avenors und zugleich Aotearoas dar. Avenor ist somit das am dichtesten besiedelte Gebiet Aotearoas.
Gemessen an der Größe des Landes verliert sich allerdings die Gesamtpopulation von rund fünfzehntausend Menschen. Die Entfernungen zwischen den Siedlungen tragen das ihrige bei. Zwischen Cape Travis, dem westlichen, und Van Dien, dem östlichen Ende Avenors, liegen zweihundertfünfzig Meilen. Die zweihundert Meilen von Van Dien nach Stoney Creek noch hinzugerechnet, ergibt sich die ungefähre Breite Avenors.
Im Süden grenzt mein Heimatland an das alte Kernland Aotearoas, an Otago. Dort, am südlichsten Zipfel, am Willersee, gute tausend Meilen von Stoney Creek entfernt, liegt die Stadt Willer, die älteste Siedlung Aotearoas. Über dreihundert Jahre nach ihrer Zerstörung durch die Opreju leben dort wieder geschätzte anderthalbtausend Menschen.
Noch vor hundert Jahren hatte das anders ausgesehen.
Nur sehr langsam war der Neuaufbau wieder in Gang gekommen. Lange Zeit wagte sich niemand in die Tiefen Otagos oder auch Ergelads, aus Angst vor dort immer noch marodierenden Opreju. Befürchtungen wie diese erwiesen sich letztlich als haltlos, und die Wiederinbesitznahme des Willersees, des einzigen nennenswerten Binnengewässers Aotearoas, konnte erfolgreich angegangen werden. Die Zahl der Siedler wuchs stetig an, und heute wohnen in Willer sogar wieder mehr Menschen als in Lake Sawyer, der fünften und zweitkleinsten Siedlung Aotearoas.
All diesen fünf Städten und Städtchen hatte ich bereits zumindest einmal einen Besuch abgestattet, mit dem Ergebnis, mich in Stoney Creek noch wohler zu fühlen als ohnehin schon. Die Größe und der Lärm Van Diens übertreffen sogar noch die Unruhe, die Cape Travis ausstrahlt. Einzig und allein Willer, mit den imposanten schneebedeckten Gipfeln des Zentralmassivs im Rücken, ist es gelungen, einen Platz in meinem Herzen zu finden. Vielleicht lag es auch an den stillen Wassern des Willersees und an dessen mit düsteren Bäumen gesäumten und Wasserrosen