Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
Скачать книгу
im Netz zu verheddern. Vor allem dann, wenn der Fisch in Panik geraten versucht, mit ruckartigen Bewegungen zu entkommen. So mancher unerfahrene Jungfischer hat seine ersten unangenehm schmerzvollen Erfahrungen dabei gemacht, einen Auregu zu befreien, um das Netz zu schonen. Eine durchaus verständliche Reaktion, jedoch ein Fehler, den man nur einmal begeht. Die tückischen Stacheln bleiben mit Vorliebe tief in der Haut stecken. Die Wunden entzünden sich in den meisten Fällen, heilen schwer ab und hinterlassen unvergessliche Narben.

      „Es kommt Sturm auf“, erinnerte ich meinen Bruder, der eifrig begonnen hatte, Masche um Masche aufzutrennen, um sich des unliebsamen Fanges zu entledigen. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich das Netz einfach ins Boot gezogen, mit dem Auregu darin oder nicht. Rob setzte offensichtlich andere Prioritäten. Kein Wunder, immerhin handelte es sich bei dem Fangnetz um eine seiner letzten Arbeiten, an der er mehrere Wochen gesessen hatte. Verständlicherweise wollte er den Schaden so gering wie möglich halten.

      Ich kümmerte mich also um das zweite Netz, holte es so schnell es alleine ging ein und nahm dabei keine Rücksicht auf die gefangenen Fische, die darin zappelten. Ich wollte so rasch wie möglich zurück. Ein ausgewachsenes Unwetter auf offener See konnte unserem kleinen Boot gefährlich werden, und ich verspürte nicht die geringste Lust, seine Belastbarkeit auszutesten. Während Rob nun doch laut fluchend das geliebte neue Netz zerschnitt, setzte ich das Hauptsegel und brachte den Kahn in den immer stärker werdenden Wind. Wir nahmen zügig Fahrt auf, doch selbst bei diesem Wind würden wir gute zwei Stunden benötigen, um Stoney Creek zu erreichen.

      „Vielleicht zieht das Unwetter an uns vorbei“, mutmaßte Rob, der den herausgeschnittenen Auregu mitsamt den unbrauchbar gewordenen Teilen des Netzes achtlos über Bord warf.

      „Was tust du denn?“ Einen Auregu dieser Größe einfach so aufzugeben, wollte ich nicht verstehen, Sturm hin oder her.

      „Eine Gefahrenquelle weniger“, erklärte Rob trocken. „Wer weiß, was da auf uns zukommt. Ich übernehme!“ Er nahm mir das Steuerruder aus der Hand und änderte unverzüglich und kommentarlos den Kurs in westliche Richtung und damit auf Radan zu. Ich ärgerte mich, nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen zu sein.

      Die Wolkenfront hatte uns inzwischen spielend eingeholt. Wir begruben alle Hoffnungen, ungeschoren davonzukommen. Erste heftige, erstaunlich kalte Böen erreichten uns, welche das Segel auf eine arge Zerreißprobe stellten. Wir zogen wärmende Kleidung über und hofften auf einen guten Ausgang. Das Boot schipperte über die immer stärker werdende Dünung in Richtung Westen auf Radan zu. Bei guter Sicht hätte die Insel bereits in Sichtweite sein müssen, doch verbarg sie sich vor unseren Augen hinter einem düsteren Horizont, der keine Rettung versprach.

      Rob hielt das Steuer umklammert, während ich das gereffte Segel im Auge behielt, bereit, es gänzlich einzuholen, sollte der Wind noch an Kraft zulegen.

      Und das tat er.

      Eine mächtige Bö ergriff uns. Mit garstigem, höhnisch klingendem Knall, nicht unähnlich dem einer Peitsche, riss das Segel entzwei, welches wie ein entfesseltes Gespenst wild flatternd um sich zu schlagen begann.

      „Segel einholen!“ rief Rob.

      Der Wind heulte inzwischen so laut, ich vernahm seine Stimme nur noch wie durch einen Schleier. Er zerrte an seinen Worten und entführte sie aufs Meer hinaus, bevor sie mein Ohr erreichten.

      Mit flinken, tausendfach geübten Handgriffen begann ich die Fetzen einzuholen, die einmal unser Segel gewesen waren. Ein neuerlicher Windstoß riss sie mir mit unheimlicher Gewalt und mitsamt der Takelung aus den Händen. Innerhalb weniger Augenblicke war unser einst seetüchtiges Boot schwer beschädigt und am Rande der Manövrierunfähigkeit. Seewasser wogte überall herein.

      Die rasante Fahrt über Wellenkämme und hinunter in immer tiefere Täler nahm unerträgliche Ausmaße an. Ich spürte Übelkeit aufkommen und schauderte bei dem Gedanken, gegen Todesangst und Brechreiz gleichzeitig ankämpfen zu müssen.

      Rob tat sein bestes, uns vor dem Kentern zu bewahren. Mit aller Kraft hing er am Ruder, riss es mal nach backbord, mal nach steuerbord. Das geschundene Boot tanzte eigensinnig wie eine tollwütige Ballerina auf und ab und hin und her, rotierte dabei um seine eigene Achse, drohte mehrmals umzuschlagen, richtete sich ächzend und stöhnend wieder auf, schluckte immer mehr Wasser und raste auch schon den nächsten Kamm hinauf.

      Meine ermüdenden Arme schöpften unaufhörlich Wasser aus dem volllaufenden Kahn. Zeitgleich mit dem ersten ohrenbetäubenden Donnerschlag verlor ich den Kampf gegen den rebellierenden Magen und fing hemmungslos an zu kotzen, was mir trotz der körperlichen Anstrengung wie eine Befreiung vorkam. Das heftige Schaukeln des um sein Leben kämpfenden Bootes wollte jedoch so gar nicht im Rhythmus der Schüttelkrämpfe ablaufen, die mich im Griff hielten, und als ich mit der Stirn gegen den Bootsrand prallte, wurde mir schwarz vor Augen. Eine Sekunde lang dachte ich, ich verlöre die Besinnung. Hinter meiner Schädeldecke explodierte ein ganzes Farbenmeer. Ich spürte den eigenen Pulsschlag mit der Wucht eines Hammerwerks durchs Gehirn jagen. Robs resignierenden Aufschrei, der mit dem Bersten des Ruders einherging, bekam ich nur noch am Rande mit. Krampfhaft hielt ich mich am Bootsrand fest, um nicht über Bord gespült zu werden. Eines war mir trotz meines angeschlagenen Zustands äußerst klar: keine fünf Minuten würde ich in der aufgewühlten See überdauern. Festhalten hieß die Devise und das war auch alles, auf was ich mich noch zu konzentrieren in der Lage war.

      Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich festklammerte, mir die Frage stellte, wie viel Zeit es noch dauern konnte, bis das Boot auseinanderbrach und versank, als es plötzlich mit unerwartetem Ruck zum Stillstand kam. Den Halt verlierend schrie ich auf und stürzte mit dem Kopf voran in die erzürnte See. Augenblicklich ergriff mich starker Sog. Wie Treibgut wurde ich nach allen Seiten hin und her geworfen und spürte plötzlich Sandboden unter meinem gebeutelten Körper.

      Prustend kam ich zum Stillstand, spie Salzwasser und Erbrochenes aus, und versuchte mich instinktiv auf allen Vieren krabbelnd aus der Gefahrenzone zu bringen.

      Wir waren gestrandet, womöglich auf Radan.

      Die Angst, von der Strömung erfasst und aufs Meer hinaus gezerrt zu werden, verlieh mir neue Kräfte. Wie ein Seehund fern seines natürlichen Elements robbte ich die Küste hinauf, kam endlich auf die Füße und rannte los. Doch die Brandung holte mich spielend ein. Mit Urgewalt packte sie zu, fegte mich von den Füßen, schleuderte und schleifte mich mit sich. Jede Sekunde erwartete ich gegen Felsen zu schlagen und schützte den Kopf so gut wie unter diesen Umständen möglich mit beiden Armen. Als sich das Wasser zurückzog fand ich mich halb eingegraben im Sand wieder. Schwer atmend nahm ich die letzten Reserven zusammen und kroch umständlich weiter, nur weg, nur raus aus dem Brandungsbereich. In meinem Schädel dröhnte und hämmerte es.

      Mir fiel mein Bruder ein. Für einen kurzen Moment zögerte ich, hin und her gerissen von der Angst um das eigene und Robs Leben, arbeitete mich dann aber weiter und kämpfte mich erneut auf die Füße. Der Orkan zerrte wie besessen an meinem Körper, fest entschlossen mich wieder zu Boden zu werfen, wo ich seiner Meinung nach hingehörte. Entschieden rang ich dagegen an und wagte endlich einen ersten Blick über die Schulter die Küste hinunter. Ich befand mich bereits außerhalb der Reichweite der zusammenfallenden Wellenberge und stolperte noch ein Stück weiter, bis meine Beine den Dienst versagten und ich mit dem Gesicht voran in nassem, eisig kaltem Sand landete.

      Angeschlagen blieb ich liegen.

      Aus Tausenden Kübeln ergoss sich Regen. Ich setzte mich auf, wandte den Kopf um und versuchte vergeblich durch den Niederschlag zu spähen. Es war unmöglich. Der dichte Vorhang des Regens nahm mir jegliche Sicht. Vehement überkam mich die Angst um meinen Bruder. Wie hilflos ich mich fühlte! Tränen der Hoffnungslosigkeit und des Schmerzes rannen aus den Augen und verloren sich in Sturzbächen aus Regenwasser.

      Mit schon schwindender Energie sprang ich auf und schrie Robs Namen anklagend in Richtung Meer. Dann gingen sämtliche Lichter aus. Mein ausgelaugter Körper hatte kapituliert, ich kippte nach hinten weg und verlor das Bewusstsein.

      In einer veränderten Welt kam ich wieder zu mir. Zögernd schlug ich die Augen auf und blinzelte mehrmals bevor ich es wagte, den heftig pulsierenden