Den tiefen Süden des Kontinents, von Fennosarmatia bis hinunter in das Eisgebirge, konnten weder Mensch noch Uhleb jemals meistern. Er blieb sich selbst und natürlich den Opreju überlassen. Die Landmasse im Westen, den Menschen ein Begriff unter dem Namen Kenorland, blieb durch eine natürliche Barriere versperrt, einem gewaltigen Gebirgszug, welcher den Kontinent Gondwanaland von Nord nach Süd durchzieht und in zwei ungleich große Teile aufspaltet. Die ersten Menschen, die sich daran machten ihn zu überwinden, scheiterten an seiner schieren Größe. Nur wenigen abenteuerlustigen Seefahrern war es gelungen, das sagenhafte Land jenseits des Barrieregebirges auf dem Seeweg über die unberechenbare Tethys zu erreichen. Nur eine Handvoll kehrte zurück, um davon berichten zu können. Sie sprachen unabhängig voneinander von undendlichen Weiten, üppig und fruchtbar an ihren Rändern, aber karg und versteppt im Inneren. Ihre zweifelhaften Berichte von Fabelwesen, die dort angeblich vorkamen, stießen auf berechtigtes Unverständnis. Niemand konnte sich mit schuppigen Panzern versehene Sechsbeiner von den vielfachen Ausmaßen einer Kuh, ausgestattet mit langen, peitschenförmigen Schwänzen, auch nur im Entferntesten vorstellen. Ebenso fragwürdig blieben die Darstellungen immens hoher Baumriesen, die in den Himmel reichten, soweit man sehen konnte und angeblich über Stämme verfügten, die eine Kette aus fünfzig Männern nicht umfassen könnte. Der namenlose Westen Gondwanalands schien über eine Flora und Fauna zu verfügen, die sich gänzlich von der im Osten unterschied. Nur wenige glaubten diesen Berichten. Vielleicht hätten sich die Menschen irgendwann ernsthaft aufgemacht, dieses Wunderland auf der anderen Seite des Barrieregebirges zu erkunden, wäre ihnen der katastrophale Krieg gegen die Opreju nicht dazwischengekommen. Danach stand den wenigen Überlebenden nicht mehr der Sinn nach Entdeckungen.
Den Opreju als Gegner gegenüberzustehen, der dritten höher entwickelten Lebensform Gondwanalands, brachte die Menschen an den Rand der Vernichtung. Wie war es dazu gekommen? Eine gute Frage. Letztlich gibt es keine gesicherten Belege, weshalb die beiden so unterschiedlichen Völker in Konflikt gerieten.
Die Opreju lebten im Grunde genommen genau dort, wo weder Uhleb noch Menschen freiwillig einen Fuß gesetzt hätten, vornehmlich in Fennosarmatia. Dieser weite Landstrich tief im Süden, zwischen Ithra und dem Taorsee gelegen, besteht größtenteils aus lebensfeindlichen Wüsten und Einöden. Eigentlich konnten sich Mensch und Opreju nicht in die Quere kommen, da sie praktisch in verschiedenen Welten lebten.
Und doch taten sie es.
Die bestenfalls entfernt humanoid wirkenden Opreju, im Gegensatz zu Menschen und Uhleb von riesigem Wuchs (sie erreichen eine Körperlänge von bis zu vier Metern) hatten sich ihrerseits ebenfalls aufgemacht, neue Teile Gondwanalands zu bevölkern. Da ihr Drang nach Norden gerichtet war, stießen sie unweigerlich auf die von Anfang an unterlegenen Stämme der Uhleb, deren Zahl innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums rapide abnahm. Aus Ithra verdrängt, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich nach Norden zu orientieren, nach Aotearoa, wo sie in Konflikt mit den Menschen gerieten, die die stete Zuwanderung misstrauisch beobachteten. Auseinandersetzungen blieben naturgemäß nicht aus, und das friedliche Nebeneinander fand ein blutiges Ende.
Die Menschen beanspruchten lange Zeit nur ein verhältnismäßig kleines Siedlungsgebiet im zentralen Aotearoa, das sie Otago nannten. Erst viel später wurden sie auch nördlich davon ansässig, in einem Gebiet, das sie Avenor tauften. Nach Beginn der Konfrontation mit den Uhleb dehnten sie ihre Ansprüche unverhältnismäßig weit bis an den Skelettfluss aus, die natürliche Grenze zwischen Aotearoa und Laurussia, das damals noch den Otygen, einem Stamm der Uhleb, gehörte. Ihre nicht wenigen Siedlungen wurden von den Menschen niedergemacht. Dörfer verschwanden eines nach dem anderen, bis keines mehr übrig war.
Im Norden Aotearoas, auf der Halbinsel Avenor, endete die friedliche Koexistenz erst spät, dies belegen die wenigen Aufzeichnungen der Otygen, die sich die Schriftsprache der Menschen angeeignet hatten und ihre ureigene Geschichte niederschrieben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Auf Randgebiete zurückgedrängt, fristeten die Überreste eines einst weitverbreiteten Volkes nur noch ein Schattendasein. Als mit der Invasion der Opreju der Große Krieges schließlich auch Avenor erreichte, verlieren sich die Spuren der Uhleb für immer.
So brachte man es uns bei, und genau so begriffen wir unsere Welt. Nicht den geringsten Grund gab es, diese grundlegenden Gegebenheiten, die Geschichte meines Volkes, anzuzweifeln. Ich kannte niemanden, der auf den Gedanken gekommen wäre, dass vielleicht nicht alles was zuhause gelehrt wurde den Tatsachen entsprach. Warum auch sollte man uns anlügen, uns vorsätzlich Unwahrheiten weitergeben?
Doch schon bald sollten mich erste Zweifel plagen. Zweifel, die schlussendlich ein Räderwerk in Bewegung zu setzen wussten, welches sich, einmal in Gang gebracht, nicht mehr stoppen ließ.
Rob und ich blieben zwei weitere Tage auf Radan. Mein Bruder kümmerte sich darum, das Boot wieder flott zu kriegen. Ich dagegen fand nur noch Augen für den Schatz, den wir gefunden hatten. Der überwiegende Teil der Schriften blieb mir verschlossen, da ich die geschriebene Sprache nicht verstand. Ich befasste mich deswegen ganz und gar mit der Sichtung dessen, was ich zu entziffern in der Lage war.
Nun waren weder Rob noch ich geübte Leser, da diese Fertigkeit in Stoney Creek nicht traditionell gelehrt wurde. In einer Welt, in der die Fähigkeit zu lesen zum Überleben nicht wichtig war, legte auch niemand viel Wert darauf, sie zu beherrschen. Nur wenige Kinder meiner Heimat (einschließlich Rob und mir) kamen in den Genuss, Lesen zu lernen. Meine Mutter bestand darauf, und so fügten wir uns wenn auch widerwillig. Wie so oft erweisen sich viele Dinge, denen man als Kind mit Ablehnung begegnet, im späteren Leben als wahrer Segen.
In Stoney Creek existieren zudem nur wenige handschriftlich verfasste oder gar gedruckte Aufzeichnungen aus der Alten Zeit. Viel Lesestoff war folglich nicht vorhanden. Das meiste davon befand sich mehr oder weniger verborgen in Privatbesitz. Fürwahr kein großer Anreiz, um überhaupt Lesen lernen zu wollen. Dessen ungeachtet insistierte unsere kluge Mutter vehement. Und sie setzte sich letzten Endes durch. Lesen und Schreiben zählen zu den Fähigkeiten, die einmal erlernt auch ohne große Pflege nie mehr verloren gehen.
Wenn ich auch seit Mutters Tod kein einziges Buch mehr in den Händen gehalten hatte, stellte es keine Schwierigkeit dar, die gedruckten Buchstaben vor meinen Augen zu entziffern. Wahrlich ein wenig aus der Übung gekommen, bedurfte es nur etwas Praxis, bis die eingerostete Mechanik wieder in Bewegung kam. Und was ich zu lesen bekam, konnte ich zunächst nicht glauben. Es stand im Gegensatz zu allem, was meinem Wissensstand über die Menschen Gondwanalands entsprach. Mich beschlich der Verdacht, einem schlechten Scherz aufzusitzen, zu grotesk erschienen manche Dinge, die ich fassungslos zur Kenntnis nahm. Nur wenige Details stimmten mit der mir bekannten Realität überein.
Was jetzt ein mulmiges Gefühl bereitete, waren all die verdrängten Zweifel, welche mich so lange ich denken konnte beschäftigt hatten. Vor Jahren ausrangiert und größtenteils ins Unterbewusstsein abgeschoben, strebten sie nun der Oberfläche entgegen. Flaues Gefühl in der Magengrube signalisierte, hier und heute auf etwas gestoßen zu sein, das den Schleier zu etwas seit Jahrhunderten Verborgenem lüftete. Erinnerungen erwachten, von denen ich schon gar nicht mehr wusste, dass ich sie besaß. Erinnerungen an meine Kindheit und an all die ungeklärten Fragen, die ich schon damals nicht zu formulieren wagte.
Seit jeher machten mir die vielen weißen Flecken in unserer Geschichte zu schaffen, die kein noch so gebildeter Lehrmeister jemals zu voller Zufriedenheit hatte beantworten können. Vor allem die Frage, warum uns die Opreju so feindlich gegenüberstanden. Weshalb war es zum Großen Krieg gekommen, der nicht nur Aotearoa sondern auch alle anderen Siedlungsgebiete der Menschen zerstört hinterließ? Aus welchem Grund war einzig und allein Stoney Creek der Vernichtung entgangen? Die Antworten auf meine Fragen erschienen mir bereits als Kind unglaubwürdig. Dennoch akzeptierte ich sie. Gab es einen Anlass, die Worte unserer Lehrer anzuzweifeln? Nicht den geringsten. Was konnte es ihnen auch bringen, uns, ihre Nachkommen, anzulügen?
Opreju hassen Menschen, diese Tatsache nahm ich genauso als gegeben hin wie das Blau des Himmels. Der Große Krieg, so lernten wir es, war ein von den Opreju angezettelter Vernichtungsfeldzug gewesen,