Mit zitternden Händen tastete ich meinen Kopf ab und berührte Stoff. Jemand hatte mir allem Anschein nach einen Verband angelegt. Auf die Ellenbogen gestützt blickte ich mich in der Höhle um. Sie war nicht sonderlich geräumig, bot aber genügend Schutz vor der sengenden Sonne, die draußen wieder das Regiment übernommen hatte. Das blendende Licht, das in die Höhle drang, schmerzte in den Augen und verstärkte das Pochen unter der Schädeldecke. Neben mir erspähte ich die Reste eines Hemdes.
Robs Hemd.
„Rob?“ Ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. „Rob, wo bist du?“
Keine Antwort.
Ich setzte mich auf. Da es besser ging als erwartet, wagte ich mich auf die Beine. Zwar nahmen die Kopfschmerzen sofort an Intensität zu, doch sie ignorierend machte ich erste unsichere Schritte und trat vor die Höhle hinaus ins Freie. Die Xyn, die gute alte Sonne, stand bereits tief und tauchte die Welt in goldenes Licht. Vor mir lag das spiegelglatte Meer. Nichts erinnerte an das Unwetter, das hier vor kurzem noch getobt hatte. Nach einigen weiteren Schritten drehte sich mir der Kopf und ich sah mich gezwungen, den Stamm einer willkommenen Palme als Stütze anzunehmen.
Dann vernahm ich die Stimme meines Bruders.
„Bist du wieder unter den Lebenden?“ Vor mir stand ein lächelnder, kerngesunder Robert Schilt. Keine Schramme, keine Blessur war in seinem tief gebräunten Gesicht oder sonst irgendwo am von der Sonne gegerbten Körper auszumachen, der nur noch in einem alten Paar zerschlissener Hosen steckte.
Wieder einmal stellte ich fest, wie verblüffend ähnlich wir uns sahen. Manchmal war mir so, als blickte ich in den Spiegel, wenn ich sein Gesicht dicht vor meinem gewahrte. Er war drei Jahre älter und sah mit seinen beinahe dreißig Lenzen reifer und erwachsener aus als ich, aber dies war natürlich eine rein subjektive Ansicht. In Stoney Creek konnte man uns schon als Kinder nur schwer voneinander unterscheiden. Natürlich war Rob als der Ältere auch immer der Größere gewesen und neben ihm verriet mich stets mein geringerer Wuchs. Tatsächlich sollte ich ihn später einmal einholen und sogar um wenige Zentimeter überragen. Ich mochte vielleicht ein paar Haaresbreiten größer sein als er, dafür verfügte Rob über kräftigeren Körperbau. Er glich seine geringere Körpergröße durch breitere Schultern aus, ein für das ungeübte Auge durchaus markantes Unterscheidungsmerkmal.
Rob reichte mir einen hölzernen Becher.
„Hier, trink! Du hast bestimmt Durst.“
Erst jetzt bemerkte ich, wie Recht er hatte, ergriff das Gefäß und trank. Das Wasser war kühl und süß, und mir verlangte sogleich nach mehr. Rob ging in die Knie und schöpfte aus einem alten Holzeimer nach. Eimer und Becher waren keine Unbekannten. Das letzte Mal hatte ich beide in unserem Boot gesehen.
„Du hast es also auch geschafft. Und in deutlich besserer Verfassung als ich“, sagte ich endlich. Die Erleichterung darüber war mir vielleicht nicht anzuhören, aber in unserer Kommunikation spielten die für Außenstehende nur schwer wahrnehmbaren Untertöne eine wichtige Rolle. Und Rob bekam sehr wohl mit, welch tonnenschwere Last mir von der Brust fiel.
Er grinste. „In deinem Alter habe ich mich auch noch ungeschickt benommen. Da machen wir ‘ne kleine Bootsfahrt, als hätten wir noch nie eine gemacht, und der erste Luftzug weht Brüderchen über Bord. Und wie sieht er aus, wenn ich ihn wieder finde? Er liegt halb eingegraben und bewusstlos im Schlamm, hat ein Loch im Kopf und spielt toter Mann.“ Der Ton in seiner Stimme veränderte sich dramatisch. „Ich bin vor Angst um dich fast gestorben. Als wir strandeten warst du plötzlich verschwunden. Ich bin verrückt geworden vor Sorge.“
„Als das Boot auf Grund lief bin ich in hohem Bogen über Bord geflogen“, erinnerte ich mich vage und schauderte beim Gedanken an das Geschehene.
„Das habe ich sehr wohl mitbekommen. Die Brandung riss dich sofort weg, du warst einfach nicht mehr zu sehen.“ Dann berichtete er, wie eine der nächsten Wellen das Boot umgeworfen hatte. „Ich schwamm um mein Leben, versuchte, mich aus der Strömung zu befreien. Irgendwann muss es mir gelungen sein, auf jeden Fall spülte mich ein enormer Brecher den Strand hinauf. Da lag ich nun, du warst fort, das Boot ebenso, und um mich herum herrschte das heftigste Unwetter meines Lebens. Ich hätte heulen können. Ich schrie wieder und wieder deinen Namen. Und dann hörte ich dich rufen. Nur einmal, aber es reichte. Ich lief in die Richtung, aus der dein Ruf kam, und fand dich. Nun ja, den Rest kannst du dir denken. Ich habe dich hochgenommen und uns diese Höhle hier gefunden. Sie bot immerhin Schutz gegen den Regen.“ Rob betrachtete mich prüfend. „Wie geht es dir? Du musst mit dem Kopf irgendwo gegengeschlagen sein. Zum Glück ist es nur eine Platzwunde. Weißt du übrigens, dass du einen Tag und zwei Nächte durchgeschlafen hast?“
Diese Tatsache verwunderte mich in der Tat. Mit allen zehn Fingern betastete ich die verpackte Wunde, als könnte ich ihre Ausmaße unter dem Stoff spüren. „Hämmert noch immer ganz schön. Ich bin mit dem Kopf gegen den Bootsrand geknallt. War kein angenehmes Gefühl.“
„Bestimmt nicht. Übrigens habe ich das Boot wieder gefunden. Es liegt ein ganzes Stück den Strand hinunter. Ziemlich lädiert, aber noch schwimmfähig. Teile des Masts, an dem noch immer die Fetzen des Segels hängen, sind auch angetrieben worden. Alles reparabel. Bei dieser ruhigen See können wir bald zurückkehren. Wir sitzen hier also nicht für alle Ewigkeiten fest.“
Das waren gute Neuigkeiten.
„Sind wir auf Radan?“ fragte ich.
„Mit absoluter Sicherheit. Wir hatten wirklich verdammtes Glück. Besser, du schonst dich noch etwas.“
Ich kehrte also wie geheißen in den angenehm kühlen Schatten der Höhle zurück, während sich Rob daran machte, unseren Kahn wieder schwimmfähig zu machen.
Meine Gedanken wanderten im Kreis. Was mochte unser Vater nur denken? Er machte sich bestimmt schreckliche Sorgen um seine beiden Söhne. Mir lag daran, so schnell wie möglich die Heimreise anzutreten, aber wir saßen hier erst einmal fest. Ich hoffte inständig, bereits morgen in der Lage zu sein, Rob tatkräftig bei der Reparatur des Bootes zu helfen. Im Augenblick sah ich mich außerstande auch nur den Strand hinunter zu laufen, geschweige denn irgendwelche handwerklichen Tätigkeiten aufzunehmen.
Mit einem Mal wurde die ganze Höhle bis in den letzten Winkel in goldenes Licht getaucht. Die Sonne war tiefer gesunken und schickte ihre letzten Strahlen durch den Höhleneingang.
Was sich nun ereignete, sollte nicht nur mein Leben sondern das Leben aller Menschen Gondwanas für immer verändern. Manchmal frage ich mich heute noch, Ewigkeiten später, was geschehen wäre, hätte ich die Entdeckung, die ich drauf und dran war zu machen, schlichtweg nicht gemacht. Ein bewölkter Horizont hätte gereicht, um die Sonnenstrahlen daran zu hindern, mir etwas zu zeigen, was vielleicht besser für alle Zeiten verborgen geblieben wäre. Ich hätte auch nur einfach einschlafen und die wenigen Augenblicke des enthüllenden Lichts versäumen können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre es weder mir noch Rob in den Sinn gekommen, die Höhle genauer in Augenschein zu nehmen. Warum auch? Wir hätten vielleicht noch eine oder zwei Nächte in ihr verbracht, bevor wir wieder aufgebrochen wären, um nie wieder zurück zu kommen. Heute weiß ich, es hat so sein müssen. Die Zeit war reif gewesen. Nein, es war kein Zufall, am 33. April des Jahres 621 nach Beginn der menschlichen Zeitrechnung auf Gondwana diesen Fund gemacht zu haben. Ob die Ermeskul ihre nicht vorhandenen Finger dabei im Spiel hatten, sei dahingestellt. Im Rückblick tendiere ich zu dieser Theorie.
Ein Stück der hinteren Höhlenwand, die von meinem Ruhelager so aussah, als bestünde sie aus Reihen aufgeschichteter Steine, erregte meine Neugierde. Jene letzten Sonnenstrahlen fielen so günstig darauf, ich wurde regelrecht gezwungen, sie zu bemerken. Meine Augen konzentrierten sich sogleich auf diese unerwartete Entdeckung. Nein, es handelte sich um keine natürliche Erscheinung, dieser Haufen Steine war von welcher Hand auch immer irgendwann aufgetürmt worden.
Jetzt war meine Wissbegier geweckt. Doch gerade als ich mich erheben wollte, um der Sache auf den Grund zu gehen, ging der magische Moment vorüber. Die Sonne versank und zog ihr verräterisches Licht aus der Höhle ab. Als hätte jemand die einzige Kerze ausgeblasen,