Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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diesen Glibber mit Genuss schluckte?

      „Na dann!“ spornte ich mich selber an und stopfte die lauwarme Masse in den Mund. Gequält lächelnd begann ich zu kauen und versuchte dabei nicht an Exkremente zu denken, was mir schwer fiel, denn genau so mussten sie schmecken.

      Krister probierte grinsend den fast garen Fisch.

      „Jetzt tut es mir richtig leid, das Fischgedärm schon entfernt zu haben. Es war voll leckerer Scheiße, die hättet ihr schön anbraten und fein würzen können. Hätte euch beiden Feinschmeckern sicherlich vorzüglich gemundet.“

      In erwachender Einigkeit wussten Luke und ich, was nun zu tun war. Einen Wimpernschlag später klebte halbgarer Seetang in Kristers verdutztem Gesicht. Er benötigte einen langen Augenblick, um in unser Gelächter einzustimmen, aber dann johlten wir alle, bis uns die Bäuche weh taten. Ich bin mir heute noch nicht sicher, ob es Luke wirklich entgangen war, wie ich währenddessen meine Portion Seetang ausgespuckt und verstohlen mit Sand bedeckt hatte.

      Um nicht in die Sawyer Bay zu geraten, was einen zu großen Umweg bedeutet hätte, nahmen wir nach Verlassen der Moa Bay Kurs offene See. Mich am Sonnenstand orientierend, hielt ich den Kahn in streng östlicher Richtung. Gegen Mittag frischte der Westwind wieder auf, was unserer Reisegeschwindigkeit wie schon am gestrigen Tag sehr zuträglich war. Alles klappte wie am Schnürchen. Noch weit vor Sonnenuntergang tauchten sie aus dem dunstigen Horizont auf, die Gestade Zadars, der großen Barriereinsel. Wie ein vorgelagerter Schutzschild zog sie sich annähernd dreihundert Meilen entlang der nordöstlichen Küste des Kontinents hin und schirmte das dahinterliegende Land von der offenen Tethys ab. Ziemlich genau in der Mitte, einer gedachten Verlängerung des Skelettflusses folgend, lag die historische Grenze zwischen Aotearoa und Laurussia. Nach dem Krieg zeigten sich die Menschen diesseits des Skeleton nur noch wenig interessiert an „ihrem“ Anteil Zadars, der sich eindeutig zu nahe an Feindesland befand und zudem keine schützende natürliche Grenze aufwies. Obendrein wurden auf der mit Abstand größten Insel Gondwanalands die Opreju vermutet, ein weiterer Grund, ohne Bedauern zu verzichten.

      Alten Erzählungen nach war Zadar einst an ihrem östlichen Ende durch eine schmale Landzunge mit Travorsa verbunden, der drittgrößten Insel Gondwanalands. Manche behaupten, sie sei sogar die zweitgrößte. Ich für meinen Teil verwies Travorsa eher auf Platz vier. Den eindrucksvollen Landkarten, die sich unter den Aufzeichnungen von Radan befanden, galt mein vollstes Vertrauen. Tief im Süden, jenseits des Landes Nepondria, zeigten sie eine weitere beachtliche Insel mit dem Namen Irndo, eindeutig größer eingezeichnet als Travorsa. Und ewig weit im Westen Gondwanalands, am anderen Ende der gewaltigen Landmasse, die sich vom Großen Barrieregebirge bis hin zur westlichen Tethys zog, lag die stattliche Vulkaninsel Araka, die es meiner Meinung nach durchaus mit Travorsa aufnehmen konnte. Es war an der Zeit wieder einmal einen Blick auf die vergilbte Karte zu werfen, die ich im Rucksack verwahrt mit mir führte.

      Welche natürlichen Prozesse zum Verschwinden der Landbrücke zwischen den beiden Inseln geführt hatten, Seebeben oder vulkanische Aktivitäten, wusste niemand. Gegenwärtig trennt der nur wenige Kilometer breite und nicht unbedingt tiefe Travorsakanal die beiden Inseln voneinander.

      Travorsa, die auch die Toteninsel genannt wird, gilt seit Menschengedenken als Wiege der Opreju. Auf ihr soll der Legende nach der Ursprung dieser sagenumwobenen Lebensform zu finden sein. Gerüchte, nach denen bei extremem Niedrigwasser die beiden Nachbarinseln hin und wieder kurzzeitig eins werden, taten ihr weiteres, um das Interesse an einer Besiedlung Zadars zu dämpfen. Dieser Insel näherten wir uns nun, mit der Absicht, die Nacht darauf zu verbringen. Bei dem Gedanken daran gruselte es mich ein wenig. Es konnte bedeuten, zum ersten Mal auf Opreju zu treffen, auch wenn ich nicht recht daran glauben wollte. Früher oder später hätten auch wir Hinterwäldler in Stoney Creek davon erfahren, sollten auf Zadar die Opreju sitzen.

      „Was ist das?“ Lukes Ruf ließ unsere Blicke automatisch seinem ausgestreckten Zeigefinger folgen, der nach Nordwesten und damit von der Insel weg zeigte.

      Ich konnte nichts entdecken. Krister erging es ähnlich.

      „Ich sehe nichts“, meinte er. „Wo soll es denn sein?“

      „Na dort! Seid ihr blind? Es ist ein Boot. Ziemlich weit weg, aber immerhin ein Boot!“

      So sehr ich mir auch die Augen aus dem Kopf schaute, es gelang nicht, irgendetwas anderes auszumachen als unzählige mit Schaumkronen verzierte Wellen und Scharen fischender Seevögel.

      „Du musst dich irren“, meinte Krister schließlich.

      „Nun sehe ich es auch nicht mehr.“ Luke zeigte sich einigermaßen enttäuscht, uns seine Entdeckung nicht vermittelt haben zu können. „Aber es war ein Boot. Das Segel war unverkennbar!“

      „Vielleicht ein auf der Stelle schwebender Vogel?“ mutmaßte ich. „Die Entfernung gaukelt einem schon manchmal ein Trugbild vor.“

      Luke sah mich entrüstet an. „Glaubst du etwa, ich kann einen Vogel nicht von einem Segel unterscheiden?“

      „Selbst wenn es ein Boot war...“, begann Krister.

      „Es war ein Boot!“ beharrte Luke eisern.

      „Wie dem auch sei. Nicht unbedingt ungewöhnlich. Wir befinden uns kaum eine Tagesreise entfernt von Van Dien. Warum sollten wir die einzigen sein, die in dieser Gegend herumschippern? Womöglich sind hier gute Fischfanggründe.“

      Ich nickte zustimmend. „Im Grunde wundert es mich mehr, noch niemandem begegnet zu sein. Schließlich gehören diese Gewässer zu Aotearoa und liegen zudem vor der Haustür seiner größten Stadt.“

      „Ein gutes Zeichen“, schloss Krister. „Damit sind meine letzten Zweifel an einer Landung auf Zadar beseitigt.“

      „Ach, hattest du welche?“

      „Du etwa nicht, Jack?“

      „Einige wenige vielleicht. Aber da merkt man doch, wie tief sich die Ammenmärchen unserer Kindheit ins Gedächtnis gebrannt haben. Die unmittelbare Nähe zur Toteninsel lässt einen sofort an Geister und andere Ungeheuer denken.“

      „Und an Opreju“, erinnerte Luke.

      „Auch nichts anderes als Gespenster“, winkte Krister ab. „Ich habe noch nie an sie geglaubt. Und zu deiner Information, Jack: Die Toteninsel liegt gute vierhundert Meilen in dieser Richtung.“ Er zeigte nach Südosten. „Von ‚unmittelbarer Nähe’ kann keine Rede sein.“

      „Ja, jetzt noch nicht. Wir werden sehen, wie du in ein paar Tagen darüber denkst.“

      Bei Ebbe setzten wir das Boot mit einem kräftigen Ruck auf Grund. Dies geschah nicht unerwartet, hatten wir die stetig abnehmende Wassertiefe doch genauestens im Auge behalten und das Segel beizeiten eingeholt. Die See hatte sich weit zurückgezogen und entblößte ihr Bett aus schmutzig grauem Schlick, das wenig dazu einlud, den Kahn an den schätzungsweise fünfhundert Meter entfernten Strand hoch zu schleppen.

      „Wann ist eigentlich Flut?“ fragte ich in die Runde und erntete allgemeines Achselzucken. Wir konnten schlecht an Land waten und das Gefährt alleine zurücklassen. Also beförderte Krister kurzerhand seinen Stiefbruder zum Kommandanten und übertrug ihm die volle Verantwortung für das Boot, was im Kern nichts anderes bedeutete, als auf das irgendwann eintreffende Hochwasser zu warten. Luke freundete sich damit schnell an. Selbstsicher nahm er am Ruder Platz und beobachtete uns gähnend beim Marsch durch den zähen Schlick.

      Während der Wattwanderung fielen mir die zahlreichen handtellergroßen Krebse auf, die sich eingebuddelt im lockeren Schlamm in Sicherheit wiegten. Ihre stattlichen, fremdartig bläulich schimmernden Scheren ragten hier und da abwehrbereit hervor. Mit dem Eisenstab hebelte ich ein wahrhaft monströses Exemplar aus seinem glitschigen Versteck, pinnte es auf den Rücken und nahm die beeindruckenden, unfügsam auf- und zuschnappenden Verteidigungswerkzeuge in Augenschein. Zwei bis drei Dutzend Scheren würden für eine Mahlzeit ausreichen, schätzte ich.

      Kurze Zeit später brieten auch schon sechs ansehnliche Exemplare im Feuer vor sich hin. Ich hatte mir die Freiheit herausgenommen, sie nach der Größe ihrer Scheren