Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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Seiten fest. Es bedurfte schon wirklich eines Unwetters, um es loszureißen. Einigermaßen beruhigt ließ ich es leise schaukelnd zurück.

      Etwas höher gelegen stieß Luke auf der Suche nach essbarem Grünzeug auf einen dicht mit Moos bewachsenen Felsvorsprung. Einen besseren Schlafplatz konnten wir uns nicht wünschen. Das weiche Moos bildete eine ideale Unterlage, bequemer noch als Sand. Einen Nachteil jedoch galt es hinzunehmen: Von dort aus gab es keine direkte Sicht auf das Boot. Die Felsen, die es an drei Seiten umgaben, versperrten jeden Blick. Ich war jedoch bereit, auch diesen Umstand hinzunehmen. Bei der augenblicklichen Bewölkung versprach die Nacht sowieso eine tiefdunkle zu werden. Selbst wenn ich direkt davor säße, würde ich das Boot nicht mehr sehen können. Es war also müßig, sich darüber Gedanken zu machen.

      Wir brieten jeden einzelnen der gefangenen Fische und aßen hemmungslos. Luke hatte die silbrigen Bäuche mit frischen Kräutern gefüllt, was ihren Geschmack noch verfeinerte. Was nicht sofort in unseren Mägen landete, verschwand als Vorrat für den morgigen Reisetag in den Rucksäcken. Wohl genährt und hundemüde legten wir uns nieder. Das Lagerfeuer brannte leise knisternd herunter und erlosch.

      Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich hätte schwören mögen, Kies unter besohlten Schuhen knirschen zu hören. War es dieses Geräusch gewesen, das mich hatte hochschrecken lassen?

      Ich lauschte.

      Nichts außer dem sanften Lied des Windes und dem ewigen Rauschen der niemals ruhenden See. Mein himmelwärts gerichteter Blick fand nur tiefste Schwärze. Kein Stern zeigte sich.

      Schläfrig sank ich alsbald wieder auf das weiche Lager zurück und schloss die Augen. Ich hatte wieder von Rob geträumt. Er war auf einem Schiff, umgeben von tosenden Wellen, die es nach Belieben hin und her warfen. Ich näherte mich ihm unter vollem Segel mit dem größtmöglichen Risiko in meines Vaters Boot, froh und glücklich, ihn endlich gefunden zu haben. Doch noch ehe ich ihn erreichte, löste es sich unter den Füßen auf und verschwand. Der gleiche Traum wie immer, nur in etwas abgewandelter Form. Stets verlor ich Rob aus den Augen, sobald er zum Greifen nahe war. Wie ein flatternder Vogel im Sturm trieb ich durch die Lüfte von ihm fort. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich widerstandslos den Elementen hinzugeben. Wie sehr ich diesen deprimierenden Traum verabscheute, in dem ich immerfort den Kürzeren zog! Die Variante mit dem verschwindenden Boot stellte nur eine weitere Spielform einer Aneinanderkettung von Niederlagen dar. Rob blieb unerreichbar, was ich auch anstellte, wie nah ich ihm auch immer kam. Kurz bevor ich wieder einschlief, schalt ich mich einen Narren, die Sorge um unser Boot so dominierend werden zu lassen, dass sie mich sogar in meine Träume verfolgte. Wie berechtigt diese Sorge war, sollte ich erst am anderen Morgen so richtig erfassen.

      Der neue Tag begann mit dem herbsten Rückschlag seit Beginn der Reise. Ein Alptraum wurde wahr. Wie die begossenen Pudel standen wir an genau der Stelle, an der ich gestern Abend das Boot festgemacht hatte. Mit der Ausnahme, dass es sich dort nicht mehr befand.

      Es war fort.

      Ungläubig schaute ich mir die Augen aus dem Kopf. Mein erster Gedanke galt dem Naheliegendsten: Die Taue hatten sich aus irgendeinem Grund gelöst, und die Gezeiten das ungesicherte Boot aus dem Kanal hinaus in die Bucht gezogen. Es konnte also nicht weit sein, musste irgendwo in der Nähe angetrieben liegen. So dachte ich. Wie gehetzt jagte ich das Kliff hinunter an die Küste, halb erwartend, mein Boot irgendwo in der Nähe auf den Wellen hüpfen oder zumindest angespült zu sehen. Aber es war nicht da. So sehr ich auch suchte, es blieb verschwunden.

      Krister hatte sich inzwischen auf eine Klippe geschwungen, die einen guten Blick über die gesamte Bucht ermöglichte. Flehentlich sah ich zu ihm empor, auf ein positives Signal wartend, einen ausgestreckten Arm, der auf die See zeigte, einen Schrei, irgendetwas. Doch er stand schon viel zu lange reglos suchend da. Mein verzweifelter Blick fiel auf Luke, der wie ein Häufchen Elend auf den Kanal starrte, als befände sich unser Gefährt versunken auf seinem Grund. Mein Magen begann zu realisieren, was geschehen war. Er brannte wie Feuer. Warum sprach niemand ein Wort? Wieso holte mich niemand aus diesem furchtbaren Traum?

      „Wo ist es?“ rief ich endlich laut aus. „Wo ist das Boot?“

      Ich drückte mich an einem immer noch in den Kanal gaffenden Luke vorbei und untersuchte die Felsen, an denen es vertäut war. Keine Spur von den Tauen. Nirgendwo. Ich lachte irr.

      „Das gibt es nicht! Ich würde ja einsehen, wenn sich ein Tau warum auch immer gelöst hätte. Das kommt vor. Aber beide? Unmöglich!“ Mir fielen die Geräusche der letzten Nacht ein. War ich nicht wach geworden, weil ich glaubte, Schritte gehört zu haben?

      „Jemand muss das Boot gestohlen haben, als wir schliefen!“ rief ich Krister zu, der niedergedrückt angetrottet kam.

      „Nein, das glaube ich nicht“, meinte er nach kurzer Überlegung. „Hier ist außer uns niemand.“

      „Aber ich habe Schritte gehört heute Nacht!“ beharrte ich. Luke sah mich von der Seite an, bevor er den Blick wieder abwandte. „Hast du auch Schritte gehört, Luke?“

      Er schüttelte den Kopf, ohne mich wieder anzusehen. „Das schöne Boot“, sagte er stattdessen tonlos. Ich verachtete ihn dafür, schon resigniert zu haben. Oh nein, so schnell nicht. Nicht mit mir!

      Ich rannte los, die Bucht hinunter. Krister rief mir etwas hinterher, was ich nicht verstand. Vielleicht wollte ich auch nur nicht verstehen. Fest entschlossen, jeden Winkel in der näheren Umgebung abzusuchen, machte ich mich ans Werk. Aufgeben kam nicht in Frage!

      Wir suchten bis in den Nachmittag hinein. Vergeblich. Irgendwann sank ich erschöpft nieder, bereit, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Es war fort, verschwunden, verloren. Das Boot war nicht mehr.

      Tiefe Resignation machte sich breit und erfüllte mein Inneres bis in den letzten Winkel. Bittere Tränen verschleierten meinen Blick, als ich das komplette Scheitern der ganzen Unternehmung ahnte.

      Welch ein Idiot ich doch war!

      Wie bescheuert, zu glauben, ein paar lumpige Träume und Ahnungen würden mir den Weg zu Rob zeigen. Ich hatte mich und die anderen nur unnötig in Gefahr gebracht. Nun war auch noch das Boot verloren. Gerade diese Tatsache traf am härtesten. Hatte ich Luke nicht extra mitgenommen, damit er es sicher wieder nach Hause bringen konnte, falls ich Vollidiot meinen Bruder entgegen aller „Visionen“ nicht in Hyperion auffand? Oh, wie dumm und naiv mir die Überzeugungen von gestern jetzt im Licht der knallharten Realität vorkamen. Mein Vater hatte voll und ganz Recht gehabt. Nur ein Wahnsinniger würde aufgrund eines simplen Verdachts das Tabu brechen wollen. Ganz so weit war es ja nun nicht gekommen. Nicht einmal in die Nähe des Tabus hatte ich es geschafft.

      Lange Zeit saß ich einfach nur da, mit leerem Blick auf die Tethys hinausstarrend, unfähig, meinen Gedanken eine neue Richtung zu geben. Nur eine Überzeugung setzte sich allmählich durch: es war vorbei. Selbst wenn wie durch ein Wunder das Boot nun direkt vor mir auftauchte, ich hätte die Reise in diesem Moment nicht mehr fortsetzen können.

      Nach der Rückkehr ins Lager teilte ich den anderen meinen Entschluss mit. Einen Lidschlag lang sah es so aus, als wollte Krister widersprechen. Dann nickte er nur stumm. War er bereits zu ähnlicher Erkenntnis gekommen, fürchtete sich aber davor, sie zu offenbaren?

      „Das beste wird sein, wir schlagen uns durch die Wälder nach Westen in Richtung Lake Sawyer durch“, sagte ich ganz pragmatisch. „Irgendwann müssen wir auf die alte Straße treffen, die von Wynyard nach Van Dien führt. Von dort aus ist es ein Kinderspiel. Ich hoffe nur, das Hügelland hier ist einigermaßen passierbar. Wir werden ja sehen. Es bleibt uns auch nichts anderes übrig.“ Ich versuchte, entschlossen zu wirken, was bei weitem nicht der Fall war.

      Luke hatte der Entwicklung bisher wortlos und mit gesenktem Blick beigewohnt. Doch jetzt, wo die Rückkehr feststand, meldete er sich zu Wort. Mit unerwartetem Einsatz.

      „Was ich da höre kann ich einfach nicht glauben“, sagte er kopfschüttelnd. „Du willst also wirklich aufgeben, ja? Einfach so. Nur weil es einen Rückschlag gab? Ich dachte bisher, es ging um deinen Bruder, Jack, und nicht um ein Boot.“

      Er traf eine mächtig verwundete Stelle.