„Wo warst du?“ fragte ich Luke in vorwurfsvollem Ton. Es klang schärfer als beabsichtigt.
„Wasser holen!“ Erst jetzt bemerkte ich die beiden prall gefüllten Beutel über seinen Schultern. Fürsorglich half ich ihm sogleich, die Last abzulegen. Wie es ihm gelungen war, auf dieser staubtrockenen Insel überhaupt welches zu finden, interessierte zunächst nur zweitrangig. Vielmehr war ich froh, ihn wohlbehalten wieder um mich zu wissen.
„Sehr gut gemacht, Luke!“ Lobende Worte Kristers gehörten eher zu den selteneren Äußerungen, die er von sich gab. „Mann, wir haben uns ganz schön aufmischen lassen. So Hals über Kopf habe ich noch nie den Schwanz eingezogen.“
„Ich bin heilfroh, wieder auf See zu sein“, gab ich zu, mich in keinster Weise meiner Furcht schämend. „Hier sind wir zumindest sicher.“
„Klarer Fall von Überreaktion. Alleine das Wort ‚Opreju’ genügte, uns in Panik ausbrechen zu lassen. Das zeigt, wie wenig wir eigentlich auf das vorbereitet sind, was uns erwarten dürfte. Wenn wir künftig auch so feige reagieren, werden wir nicht weit kommen.“
Von dieser Warte aus betrachtet musste ich ihm uneingeschränkt Recht geben. Wir beabsichtigten immerhin, in das Land der Opreju vorzudringen. Wie komfortabel ich ihre Existenz ins Reich der Phantasie abgedrängt hatte! Zum ersten Mal begann ich wahrhaftig zu realisieren, auf was wir uns hier einließen. Meiner Angst vor dem Unbekannten war es mühelos gelungen, die Oberhand zu gewinnen. Die Zuversicht, das Richtige zu tun, erfuhr eine heftige Erschütterung. Umso mehr überraschte mich Lukes Reaktion. Er stand achtern neben mir am Ruder und warf sehnsüchtige Blicke zurück.
„Nicht einmal die Spuren habe ich gesehen!“ Es klang wie ein Jammern. Kein Hauch von Furcht. Nüchtern betrachtet war er der einzige gewesen, der nicht den Kopf verloren hatte.
„Meinst du wirklich, es waren Spuren eines Opreju?“ fragte ich Krister. Der zuckte nur mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Wir sollten davon ausgehen.“
Der Vorfall führte mir endlich vor Augen, wo ich wirklich stand. Der romantische Hauch von Abenteuer, der über allem geschwebt hatte, war spätestens jetzt verflogen.
Nach dieser Erfahrung zog es uns naturgemäß nicht mehr nach Zadar zurück. Mit geändertem Kurs näherten wir uns wieder dem Festland und folgten seinem Küstenlauf, bevor uns gnadenloser Hunger an Land trieb. Die Zubereitung der beiden Vögel, die so lecker duftend über dem Lagerfeuer schmorten, brachte uns auf andere Gedanken. Mit gut gefüllten Bäuchen und dem Wissen, wieder „zuhause“ zu sein, scherzten wir umeinander, als wäre nichts geschehen. Doch die unbeschwerte Leichtigkeit war unwiederbringlich verflogen. Vielleicht zur rechten Zeit.
Über Nacht hatte der Wind gedreht und wehte nun kräftig aus nordöstlicher Richtung. Mit ihm zogen dunkle Wolken heran, doch regnete es nicht. Diese Wetterlage verlangte etwas mehr Aufmerksamkeit als das simple Vor-dem-Wind-fahren der letzten Zeit. Ich schickte das Boot windwärts auf Kreuzkurs, und wir segelten zunächst auf Backbordbug vom Festland fort. Als die Große Barriereinsel wie ein Geist aus dem Dunst stieg, fuhr ich eine ausgedehnte Wende und ging auf Steuerbordbug.
So kreuzten wir den lieben langen Tag in mehr oder weniger östlicher Richtung hin und her. Krister hatte wie immer die Angelschnüre ausgeworfen und fing über Stunden hinweg völlig versunken in seine Tätigkeit einen Fisch nach dem anderen. Luke dagegen saß bewegungslos am Bug und starrte auf das Meer hinaus. Ab und zu wandte er sich um, als wollte er sich vergewissern, ob wir anderen noch da waren. Stets sah ich dabei ein schwer zu beschreibendes Lächeln auf seinem Gesicht, das mich mehr als nur einmal an das verklärte Grinsen eines Schwachsinnigen erinnerte. In diesen Momenten bemerkte ich, wie wenig ich ihn doch kannte, wie fremd er mir zuweilen immer noch vorkam. Krister zerrte derweil den dritten Sargan aus seinem natürlichen Element. Ein Prachtexemplar von einem guten Meter Länge. Längst befand sich mehr Fisch an Bord, als wir in den nächsten beiden Tagen würden vertilgen können.
Am späten Nachmittag leitete ich die letzte Wende ein und nahm wieder Kurs Festland. Trotz des widrigen Windes waren wir gut vorangekommen und durften uns gut und gerne auf halber Strecke zwischen Sawyer Bay und Fisk Bay befinden. Der Skelettfluss befand sich also günstigstenfalls nur noch anderthalb, höchstens zwei Tagesreisen entfernt. Beim Gedanken daran spürte ich das Blut in meinem Kopf rauschen. Oder war es nur der mir um die Ohren pfeifende Fahrtwind?
Die Reste vom Vorabend reichten nicht aus, die Mägen dreier erwachsener Männer zu füllen. Wir beschlossen deshalb, den Tag ausklingen zu lassen und an Land zu gehen und den Fisch zu verwerten.
Unterdessen hatte sich Aotearoa spektakulär verändert. Obwohl ich noch nie im Leben diesen Teil meiner weiten Heimat gesehen hatte, wusste ich doch, wo ich mich befand. Wir hatten unverkennbar Ergelad erreicht, das Hügelland zwischen Lake Sawyer und den Kupferbergen.
Vom Meer aus bot sich uns ein faszinierendes Naturschauspiel. Das der See zugewandte Bergland präsentierte sich in glanzvollen Rottönen, das kurzzeitige Geschenk eines farbenprächtigen Sonnenuntergangs. Die Küstenlinie erinnerte wieder mehr an Avenors Norden, wild zerklüftet, felsig, von kleinen strandlosen Buchten durchzogen.
In eine dieser Buchten steuerte ich das Boot auf der Suche nach einer geeigneten Anlegestelle. Es boten sich einige Möglichkeiten, die mir allerdings nicht sicher genug erschienen. Ich verwarf sogar einen kanalartigen Einschnitt, der wie aus dem Fels herausgehauen wirkte und regelrecht zum Festmachen einlud. Zu riskant! Freilich hätte sich das Boot dort vertäuen lassen, sogar von zwei Seiten. Dennoch fürchtete ich die Gefahr zunehmenden Wellengangs, vor allem bei der gegenwärtig unsicheren Wetterlage. Ein paar hohe Wogen würden genügen, um das kleine Boot – festgezurrt oder nicht – gegen die Felsen zu schleudern. Am liebsten hätte ich es wie sonst einen sicheren Strand hochgezogen. In dieser Hinsicht zeigte sich Ergelad jedoch von seiner sparsamen Seite.
Allmählich drängte es. Die Nacht brach an und wir hatten noch nicht einmal Holz fürs Feuer gesammelt, geschweige denn einen Lagerplatz gefunden. Meine Unentschlossenheit stellte die Geduld der hungrigen und müden Gefährten auf eine harte Probe.
„Was war an dem Platz eben nicht in Ordnung, Jack?“ fragte Krister gereizt. Er hatte sich lange zurückgehalten und machte endlich seinem Unmut Luft.
„Der Kanal? Nein, viel zu eng. Ein paar hohe Wellen würden ausreichen, um das Boot an den Felsen zerschellen zu lassen.“
„Aber doch nicht wenn wir es ordentlich vertäuen“, widersprach mein Freund. „Außerdem sieht es nicht nach Sturm aus. Wieso sollte der Wellengang zunehmen?“
„Ich bin eben vorsichtig“, verteidigte ich mich schwach. „Nicht auszudenken, wenn dem Boot etwas passierte.“
Womöglich hatte Krister aber Recht. Der Kanal verlockte in der Tat zum Anlegen. Eine bessere Alternative würde sich angesichts der fortschreitenden Dämmerung wahrscheinlich auch nicht finden lassen. Ich lenkte schließlich ein. Im Dunkeln irgendwo zu landen behagte mir noch ein ganzes Stück weniger. Krister nickte