Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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weiß, wie wichtig es ist, Rob zu finden. Sie würde sich niemals zwischen ihn und mich stellen. Rob benötigt meine Hilfe, Sava versteht das.“ Der Blick zu Boden verriet die Unaufrichtigkeit. „Glaubst du, du könntest es mit Luke versuchen? Wenn ich nicht genau wüsste, es ihm zutrauen zu können, bliebe er hier. Ich hatte auch schon an Scott gedacht, aber er hat genug damit zu tun, seine eigene Familie durchzubringen. Außerdem weiß ich, wie sehr er das Tabu fürchtet.“

      Wie schnell Krister das Thema gewechselt hatte.

      „Ich habe gar keine andere Wahl, oder? Eigentlich bin ich dir ja sogar dankbar, immerhin stammt die Idee von dir. Ich gebe zu, es ist mir erheblich wohler bei dem Gedanken, das Boot nicht zu entwenden sondern nur für einen gewissen Zeitraum auszuleihen. Ich weiß doch selbst sehr wohl, wie gut Lukas… also gut, Luke, mit einem Segler umgehen kann.“

      Da beschloss ich, das Wagnis einzugehen und ihn mitzunehmen. Spätestens nach der Ankunft in Hyperion würde er das Boot übernehmen und alleine nach Stoney Creek zurücksegeln, sollten wir Rob dort nicht auffinden und seine Verfolgung zu Fuß aufnehmen müssen. Überraschend schnell schien nun alles geklärt. Es gab keinen Grund, noch länger zu zögern.

      Wir warteten Westwind ab, der nicht allzu lange auf sich warten ließ. Am Vorabend des letzten Tages des vierten Monats im Jahre 622, dem 40. April, legten Krister und ich die Abreise auf den kommenden Morgen fest, den 1. Mai. Ebros, einer der beiden Monde Gondwanas, prangte am nächtlichen Himmel wie ein riesiges Rad aus gelbem Käse. Keine Wolke zeigte sich. Die helle Aura des Trabanten überstrahlte jeden Stern in seiner unmittelbaren Nähe, die ersten Sternbilder, die ich ausmachte, befanden sich nahe am Horizont. Einst wusste ich ihre Namen, doch irgendwann waren sie mir entfallen. Ob es sich bei einem dieser vielen Lichtpunkte um Pangäa handelte?

      Krister verbrachte die letzte Nacht verständlicherweise mit Sava. Luke würde damit zu tun haben, sein Bündel für die Reise zu schnüren. Nur ich wusste nicht genau, wohin ich sollte. Ich verspürte kein sonderliches Verlangen, nach Hause zurückzukehren, um meinem Vater ins Gesicht zu lügen. Mein Verschwinden gegen seinen ausdrücklichen Wunsch würde ihn morgen genauso in Rage bringen wie etwaige vorweggenommene Ehrlichkeit am Abend zuvor. Also wollte ich es ihm gar nicht sagen. Meine Sachen waren bereits gepackt, alles was es noch zu tun gab, war, sie aus der Kammer zu holen. Natürlich wollte ich mir noch eine ordentliche Mütze Schlaf gönnen, immerhin würde ich für die kommende Zeit auf ein weiches Bett verzichten müssen. Dennoch zögerte ich, zeitig heimzukehren.

      Ich wartete den Einbruch der Nacht ab und stahl mich dann wie ein Einbrecher ins Haus. Erwartungsgemäß war Vater wie immer früh zu Bett gegangen. Kein Laut war vernehmbar, als ich die knarzende Stiege nach oben in meine Kammer nahm und die Türe leise hinter mir schloss. Im Schein einer Kerze überprüfte ich abschließend das Gepäck, welches mir erneut zu schwer vorkam. Daraufhin entfernte ich die zweite Garnitur Hosen und eines der drei Ersatzhemden. Dafür verstaute ich zwei weitere Feuersteine, eine zusätzliche Fackel, ein paar Meter Seil. Tief in Gedanken versunken nahm ich auf dem Bett Platz, prüfte ein weiteres Mal die neue Sehne des Bogens und steckte noch zwei frisch gefertigte Pfeile in den Köcher. Alles was ich auf die große Reise mitzunehmen gedachte, passte entweder in den Rucksack oder ließ sich zumindest an ihm befestigten. Es erschien mir wichtig, stets beide Hände freizuhaben.

      Hellwach legte ich mich endlich aufs Bett. Aufregung breitete sich warm im Magen aus. Schwere Gedankentiefe ließ mich aber nicht zur Ruhe kommen. Die letzte Nacht im eigenen Bett versprach keine erholsame zu werden. Irgendwie muss es mir dann doch gelungen sein, einige wenige Stunden Schlaf zu finden, denn als ich die Augen aufschlug, zwitscherten bereits die ersten frühen Vögel. Kühler Wind drang durch das Fenster und spielte sacht mit dem leichten Stoffvorhang. Der Raum lag noch in tiefer Dunkelheit. Mit einem Ruck war ich wach, sprang aus dem Bett und warf einen Blick nach draußen. Über den Hügeln im Osten machte sich bereits der erste Schimmer des beginnenden Tages bemerkbar. Bevorstehender Abschied erfüllte mein Herz mit einer berauschenden Mischung aus dumpfer Wehmut und pulsierender Erregung, von der ich nicht wusste, ob sie mir gefiel oder nicht. Jetzt, so unmittelbar vor dem Aufbruch, wünschte ich mir, meinen Vater eingeweiht zu haben. Das Wissen, es ihm sowieso nicht begreiflich machen zu können, tröstete über den Anflug von Sentimentalität hinweg.

      Rasch kleidete ich mich an, rollte die Decke zusammen und machte sie an der Unterseite des Rucksacks fest, den ich zusammen mit Bogen und Köcher anlegte. Nicht eben wenig Gewicht, das ich auf dem Rücken zu transportieren gedachte. Mein Blick fiel auf den eisernen Stab. Sollte ich oder sollte ich mich nicht mit ihm belasten? Als Schlagwaffe war er ideal, keine Frage. Womöglich leistete er noch gute Dienste, wer wusste schon, was vor uns lag? Allerdings würde ich ihn ständig in der Hand tragen müssen. Doch da es sich um ein Leichtgewicht handelte, fällte ich kurzerhand den Entschluss, ihn mitzunehmen. Sollte er hinderlich werden oder sich als wenig nützlich erweisen, konnte ich ihn überall zurücklassen.

      Ungefrühstückt und so leise wie möglich schlüpfte ich hinaus. Das Knirschen des Kieses unter den Sohlen meiner neu gefertigten Stiefel hörte sich in der Totenstille, die über dem schlafenden Dorf lag, ohrenbetäubend an. Die Luft, kühl und feucht, ließ mich frösteln, als ich noch einmal innehielt und einen letzten Blick auf das Haus zurückwarf, in dem ich lebte, seit ich denken konnte und dessen schwarze Silhouette sich deutlich vom klaren Grau des frühen Morgenhimmels abhob. Natürlich hatte ich es im Laufe meines Lebens schon mehrfach für gewisse Zeitabschnitte verlassen, war aber bisher stets zurückgekehrt. Dessen war ich mir nun nicht mehr so sicher.

      Erstmals beschlich mich das Gefühl, dass es sich hier und heute um einen Abschied ohne Wiederkehr handeln könnte. Die Konsequenzen meiner Entscheidung, Rob zu folgen, schienen erst jetzt real und greifbar zu werden. Welch ein Schock musste es für Vater sein, so plötzlich, innerhalb kurzer Zeit, ohne beide Söhne auskommen zu müssen? Selbstverständlich hatten mich Grübeleien wie diese schon vor Tagen geplagt, als der Gedanke reifte, Robs Verschwinden nicht tatenlos hinnehmen zu wollen. Jetzt wo es darum ging, den Plan in die Tat umzusetzen, kam ich mir wie ein Schwein vor, ohne ein Wort zu entschwinden. Für einen beunruhigend langen Moment glaubte ich, es nicht übers Herz bringen zu können. Dann wandte ich mich um und marschierte mit entschlossenem Schritt los.

      Zwei dunkle Gestalten warteten bereits am verabredeten Treffpunkt, am Rande der Felder von George Adema, am Kiesweg hinunter zum Meer, wo das Boot lag. Sie entpuppten sich erwartungsgemäß als Luke und Krister. Wir begrüßten uns, als hätte keiner erwartet, den anderen hier vorzufinden.

      „Wir tun es also wirklich“, erwiderte Krister meinen Gruß. Wir gaben uns die Hand. Luke folgte nur kurz zögernd seinem Beispiel.

      Da standen wir nun wie eine kleine Gruppe Verschwörer, belastet mit dem Wissen, drauf und dran zu sein etwas zu tun, was den Zorn der ganzen Bevölkerung Avenors und darüber hinaus auf uns ziehen konnte. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Waren wir nicht tatsächlich komplett geistesgestört, das alte Tabu brechen zu wollen, das Avenor vor einer neuerlichen Invasion der Opreju schützte? Dennoch gab es nun keine Umkehr mehr, und hätte es eine gegeben, ich würde sie missachtet haben. Rob tatenlos im Stich gelassen zu haben würde ich mir niemals verzeihen können. Es würde wie ein Stigma bis zum Ende meiner Tage an mir haften und jeden neuen Morgen meines Lebens vergiften.

      „Natürlich tun wir es!“ stellte ich bestimmt fest, auch wenn meine Stimme flackerte. „Gab es daran Zweifel?“

      „O ja. Mehr als genug. Aber ich bin überzeugt von der Richtigkeit unseres Vorhabens. Ich weiß, wir tun nichts Unrechtes.“

      Ich konnte Krister nur beipflichten.

      „Dann geht es also jetzt los?“ Luke gelang es nur schwer, seine Aufregung zu verbergen. Doch um ehrlich zu sein, auch ich war bis in die Haarspitzen ergriffen von schwer zu beschreibender Unruhe. Was auch immer vor uns lag, es sollte jetzt beginnen.

      Der erste Teil der Reise führte bei weitem noch nicht ins Unbekannte und sollte uns über die Insel Auckland an die Nordspitze von Cape Longreach bringen, wo wir eine Nacht zu verbringen gedachten. Das Felsenkliff des Kaps, durchlöchert wie ein Käse, würde uns angenehm als Lager dienen. Darüber hinaus kannte Krister dort von einer seiner zahllosen Erkundungen einen natürlichen Hafen