Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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erbaut zwischen Bergen und Meer! Jetzt im hellen Morgenlicht erschien mir dieses Bild nicht mehr so fremdartig. Wo hatte ich es schon einmal gesehen?

      Gedankenvoll kletterte ich aus meiner Schlafstatt und griff zielsicher nach einem dicken Bildband mit vielen gedruckten Fotografien. Tatsächlich! Da waren sie! Es handelte sich um die alte Hauptstadt Laurussias, handelte sich um Hyperion!

      Mit wild klopfendem Herzen blätterte ich weiter, jedes einzelne Bild genauestens prüfend. Konnte es sein? War Rob auf dem Weg nach Hyperion? War dies der Hinweis, den ich mir erhofft hatte? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt. Der Gedanke, ihm zu folgen, reifte innerhalb weniger Stunden von bloßer Idee zu wahrer Besessenheit. Ich musste es tun. Ich musste!

      An diesem Nachmittag sprach ich endlich meinen Vater an. In seiner Werkstatt arbeitend fand ich ihn beim Ausbessern der von den heftigen Winterstürmen arg in Mitleidenschaft gezogenen Fensterläden auf. Vater war in dieser Hinsicht fabelhaft, ich bewunderte ihn für sein handwerkliches Geschick. Er war Zimmermann, Maurer, Tischler, Dachdecker, Steinsetzer und was weiß ich nicht noch alles in einer Person. Und er arbeitete akkurat wie kein Zweiter. Seine Qualitätsarbeit genoss guten Ruf in Stoney Creek. Sommers wie winters gab es für ihn immer zu tun. Das Fischen stellte nur einen Nebenerwerb dar, eine Art Zeitvertreib für seine beiden Söhne. Rob hatte kurz vor seinem Verschwinden noch mit dem Gedanken gespielt, sich ein eigenes Boot zu bauen und dann ganz und gar als Fischer zu verdingen. Die Vorstellung, meinen Lebensunterhalt auf See zu verdienen, früh am Morgen hinaus zu segeln, um abends mit reichem Fang zurückzukehren, gefiel mir ausnehmend gut. Zumal ich handwerkliche Fähigkeiten leider nicht vererbt bekommen hatte.

      Mein Vater sah von seiner Arbeit auf. Die Sonne fiel durch das Fenster direkt auf ein vom Leben zerfurchtes Gesicht und zeichnete es schonungslos in allen Einzelheiten. Mir fiel erneut auf, wie schnell er alterte. Die Veränderungen, die Mutters Tod vor eineinhalb Jahren mit sich brachten, hatten tiefe Spuren in seinem schwermütigen Antlitz hinterlassen.

      Wir beiden Kinder hatten von klein auf ein merkwürdig zurückhaltendes Verhältnis zu unserem Vater entwickelt, Rob vielleicht sogar noch ein ganzes Stück mehr als ich. Irgendwie war es nie gelungen, Zugang zu ihm zu finden. Ich spürte zwar instinktiv eine Art von verstümmelter Zuneigung, doch drückte sie sich zu keiner Zeit in für ein Kind begreiflicher Form aus. Früh fühlte ich mich von ihm lediglich geduldet, jedoch nie angenommen oder gar geliebt.

      Liebe fanden wir dafür stets bei unserer Mutter, die sich – so schien es – doppelt Mühe gab, ihren beiden Söhnen ein nötiges Maß an Herzenswärme zukommen zu lassen.

      Wir lernten zeitig, unseren Vater in Frieden zu lassen, ihn nicht in der Werkstatt aufzusuchen, in der er tagein tagaus bis spät in die Nacht arbeitete, ihn nicht zu bitten, uns mit aufs Meer oder auf die Jagd zu nehmen. So blieb er auf eigenartige Weise ein Fremder, ein Unbekannter, der zufälligerweise mein Vater war. Robert Schilt sr. jedoch tat alles für seine Familie, es mangelte nie an irgendetwas. Er sorgte aufopferungsvoll für uns alle, daran gab es keinen Zweifel. Womöglich stellte dies die einzige für ihn mögliche Form dar, seinen Kindern so etwas wie Wohlwollen zu zeigen.

      Oft fragte ich mich, wie meine Mutter jemals etwas für ihn empfunden haben konnte, für ihn, der meiner Erfahrung nach außerstande war, Gefühle zu zeigen, geschweige denn sie in Worte zu fassen. Unsere Mutter gab uns stets die gleiche Antwort: „Es ist schade, wie wenig ihr euren Vater kennt. Er liebt euch beide sehr, so wie er mich liebt.“ Dann strich sie uns übers Haar und lächelte entrückt.

      An dem Tag, an dem sie uns für immer verließ, war unser Vater genauso abwesend wie bei der Geburt seiner Söhne. Erst Tage nach ihrer Beisetzung tauchte er wieder auf und widmete sich wortlos noch intensiver seiner Arbeit, wenn das überhaupt möglich war. Ihren Namen erwähnte er nie wieder. Nur einmal habe ich ihn klagen hören, spät nachts, eingeschlossen in seiner Kammer. In jenem Moment hätte ich ihn gerne getröstet, den Schmerz geteilt. Undenkbar jedoch. Selbst wenn sich die Tür geöffnet und er in seiner Trauer vor mir gestanden hätte, würde ich es nicht geschafft haben, ihn in die Arme zu nehmen. Die unsichtbare Mauer zwischen uns erwies sich als unüberwindlich.

      Vor wenigen Tagen, als ich ihm von Robs Verschwinden erzählt hatte, offenbarte sich ums andere Mal ihre unbezwingbare Höhe. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Noch weniger machte er sich offensichtlich Sorgen. Dinge wie diese hatten keinen Platz mehr in seiner Welt. Wären wir beide gleichzeitig auf und davon gewesen, er würde es wahrscheinlich erst nach Wochen realisiert haben. Weder ich noch Rob hatten jemals einen richtigen Platz in seinem Leben erobern können. Vor langem hatte ich es aufgegeben, mich darum zu bemühen, geschweige denn, unseren Vater verstehen zu wollen.

      Nun sah er mich an. Hobelspäne hatten sich in seinem salz- und pfefferfarbenen Haar verfangen, die Stirn glänzte vor Anstrengung. Er war überrascht, mich zu sehen. Um diese Tageszeit war ich selten in der Nähe des Hauses. Vermutlich wähnte er mich eher beim Fischen oder bei der Verrichtung sonstiger Tätigkeiten, falls er je Gedanken daran verschwendete, wo sich seine Söhne überhaupt herumtrieben. Ich spürte genau, ihn zu stören. Er hingegen bemerkte meine Absicht, ihm etwas mitteilen zu wollen.

      „Spuck es einfach aus!“ forderte er kurzerhand. Zuweilen gefiel mir seine barsche Art sogar.

      Und ich spuckte es aus.

      „Ich glaube, Rob ist auf dem Weg nach Laurussia.“

      Die Augen des alten Robert Schilt verengten sich.

      „Wie kommst du darauf?“

      Jetzt kam der noch unglaubwürdigere Teil.

      „Ich habe nicht nur einmal davon geträumt.“ Noch während ich es sagte, bemerkte ich, wie töricht es klang. Ohne die Hintergrundinformationen, die ich wohlweißlich verschwieg, musste es sich geradezu lächerlich anhören. „Ich fühle, dass es so ist.“

      Mein Vater sah mich prüfend an. Unvermittelt wandte er sich ab und begann wieder zu hobeln.

      „Und jetzt bist du gekommen, um mir zu sagen, du willst ihm nachgehen, habe ich Recht?“

      Ich nickte.

      „Du willst aufgrund eines simplen Verdachts das Tabu brechen?“ Mein Vater warf den Hobel krachend hin und sah auf. Er war unversehens wütend geworden. „Weißt du eigentlich, was du da sagst?“

      Was auch immer ich mir von diesem Gespräch erwartet hatte – und es war beileibe nicht viel – eines war schnell klar: Mein Vater stellte sich gegen den Plan.

      „Vielleicht kann ich ihn vorher aufhalten“, entgegnete ich sofort eifrig.

      Mit seinem unnachahmlich autoritären Gesichtsausdruck, der mir von Kindesbeinen an Respekt eingeflößt hatte, sprach mein Vater: „Robert ist ein gescheiter Kerl. Er weiß um das ungeschriebene Gebot, keinen Fuß in das Reich der Opreju zu setzen. Nur ein Wahnsinniger würde dies tun. Ich bin überzeugt, dass es bei ihm nicht so ist. Wie ist das bei dir? Bist du wahnsinnig, Jack?“

      Mit gesenktem Blick verneinte ich.

      „Dann schlag dir diese Dummheiten aus dem Kopf!“ Er ergriff sein Werkzeug und nahm die Arbeit wieder auf. „Nun geh, ich habe zu tun und kann mich nicht mit diesen Schwachheiten herumschlagen.“

      Die Reaktion meines Vaters enttäuschte zutiefst. Niemals hätte ich erwartet, wie widerstandlos er das Verschwinden seines ältesten Sohnes hinnahm, die Ehrfurcht vor einem jahrhundertealten Tabu über sein Schicksal stellte.

      Seit Ende des Großen Krieges hatten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Menschen den Skelettfluss überquert, den Zadarkanal durchfahren oder sonstwie gegen das unantastbare Gebot verstoßen – doch eine Invasion der Opreju war ausgeblieben.

      Fast dreihundertfünfzig Jahre lag das Gefecht von Cape Travis zurück, der letzten blutigen Auseinandersetzung zwischen Menschen und Opreju. Die Wiederbesiedelung des südlichen Aotearoa, eines der Hauptkriegsplätze, war nur stockend in Gang gekommen. Seit Ende des Großen Krieges gab es keine gesicherten Berichte mehr über eine Anwesenheit der Opreju in Aotearoa, war kein Mensch mehr mit diesen Wesen in Berührung gekommen. Womöglich gab es die Opreju,