Das Tagebuch von Philip J. Patterson stellte ein wichtiges Bindeglied dar. Es zeichnete ein unverfälschtes Bild vom Alltag in einer Siedlung namens Kelvin ganz im Süden Laurussias, in einem Land, das in den Karten Gondwanas die Bezeichnung „Angmassab“ trug. Wie es aussah, stellte es auch das einzige Werk gänzlich privaten Hintergrunds dar. Und leicht verständlich. Hier hatte ein junger Mensch Gedanken und Empfindungen mit der eigenen Hand niedergeschrieben.
Der überwiegende, weniger spektakuläre Teil präsentierte sich in Druckschrift, so wie die wenigen alten Bücher, die noch in Stoney Creek kursierten und von denen die meisten in der Kambera lagerten. Die gedruckten Bücher (oder die noch lesbaren Teile davon) waren wissenschaftlicher Natur, nüchtern geschrieben und von der Wortwahl eher kompliziert. Da verhielt es sich mit den handgeschriebenen schon anders. Zwar hatte der Zahn der Zeit gerade an ihnen mit besonderer Vorliebe genagt, dennoch fanden die Informationen, die sie preisgaben, mein ungeteiltes Interesse. Auch stellte ich überraschenderweise fest, nichts aber auch gar nichts über Aotearoa im Einzelnen oder Avenor im Besonderen gefunden zu haben. Es wirkte beinahe so, als existierte meine Heimat überhaupt nicht außer auf den Landkarten. Nichts zu seiner Geschichte. Nichts über die Menschen, die dort lebten. Alles drehte sich um Laurussia.
Vier lange Nächte verbrachte ich mit dem Studium. Dann hatte ich alles durchforstet. Und blieb enttäuscht zurück. Keine Informationen über den Großen Krieg. Kein Hinweis auf diese Lebensform namens „Skiavos“, die Patterson mehrfach in seinem Tagebuch erwähnt hatte. Nicht viel mehr über die Opreju. Nur der Hinweis auf Travorsa, die zweimal als „Insel der Opreju“ bezeichnet wurde. In diesem Zusammenhang fiel auch der Name eines merkwürdigen Landes, des „Landes der Sonnensteine“, in das die Xyn angeblich keinen Zugang hatte. Dennoch ging dort niemals das Licht aus, da Tausende von leuchtenden Steinen, so hell, dass ein Mensch bei ihrem Anblick erblinden würde, der Finsternis Einhalt geboten. In diesem sonderbaren Land lebte der „Rote Herrscher“, den die Opreju offenbar als Gottheit verehrten. An anderer Stelle stieß ich noch einmal auf den Roten Herrscher und den Hinweis über seine Vernichtung am Fluss Algon durch die „Ermeskul“.
Skiavos.
Roter Herrscher.
Ermeskul.
Sehr verwirrend. So vieles ergab keinen Sinn. Noch nie zuvor waren mir diese Namen zu Ohren gekommen. An sich wollte ich etwas über die Skiavos erfahren, kam bei der Suche nach Informationen über sie stattdessen in Berührung mit Bezeichnungen, die mir noch weniger sagten.
Dafür fanden sich Berichte über das Leben auf Vestan vor dem Exodus der Menschheit. Abhandlungen über einen Planeten namens Erde, dem angeblichen Ursprung der menschlichen Rasse. Sogar einige stark angegriffene Landkarten, die die fünf Landmassen der Erde zeigten. Wenig ließ sich noch entziffern. Begriffe wie „Africa“ und „Eurasia“ waren gut lesbar, von anderen Bezeichnungen, wie jenem aus zwei mächtigen Teilen bestehenden Kontinent, die mittels einer schmalen Landbrücke verbunden waren, existierten nur noch Fragmente. Ich glaubte jedoch „Septentrionalis“ und „Meridionalis“ herauszubuchstabieren.
Auch eine Karte von Vestan fand sich, das drei Kontinente aufwies, deren Namen ich deutlich lesen konnte: Rodinia, Laurentia, Pannotia.
Und dann natürlich die überwältigenden Zeichnungen des Sternenschiffs „Britannic“. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an dieser überragenden Konstruktion, die mit nichts Ähnlichkeit hatte, was ich kannte. Ohne weiteres akzeptierte ich, mit einem Gefährt wie diesem durch das Weltall reisen zu können. Wenn überhaupt, dann damit!
Einzig und allein die gedruckte Zeittafel über die Besiedelung Gondwanalands mit exakten Datumsangaben enthielt wertvolle Informationen über die Anfänge der Kolonisation. Es sah alles so echt aus, so glaubhaft. Ich spürte meine Zweifel weichen. Was in den vergangenen Nächten geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Ich war ein neuer Mensch geworden, streifte eine alte Haut aus Lug und Trug ab. Was auch immer unter ihr zum Vorschein kommen mochte, eines war klar: ein Zurück gab es nicht mehr. Dieser Prozess war unumkehrbar. Noch begriff ich die Tragweite dieses Ereignisses nicht, aber etwas war in Bewegung geraten, der erste Stein ins Rutschen gekommen, ein kleiner nur, aber er genügte um einen unaufhaltsamen Erdrutsch in Gang zu setzen, der donnernd zu Tal gehen und alles mit sich reißen würde, was ihm im Weg stand.
Ich sah auf, als hätte mich ein Geist berührt. Verstand ich schon, was vor sich ging? Natürlich nicht. Ich befand mich noch ganz am Anfang, aber mir dämmerte es dennoch. Etwas Großes zog herauf.
Fröstelnd raffte ich die Decke fester um die Schultern, als mein Blick wieder auf die Karte fiel, die das Xyn-System darstellte. Sieben Planeten. Sieben statt sechs. Ein unbekannter namens Pangäa hatte sich dazugesellt, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, einer ehemals blau kolorierten Kugel von ungefähr der gleichen Größe Gondwanas. Deutlich kleiner als Oodis oder gar Tauri, der enorme Ringplanet, aber größer als Taran, Belfeg oder Itiko, die drei kleineren Gestirne des Xyn-Systems. Sieben Planeten... warum war er mir unbekannt? Wenn er existierte, wovon ich ausging, wieso hatte ich ihn noch nie am Firmament ausgemacht?
Die Antwort darauf dämmerte mir im nächsten Moment. Natürlich! Weil er mir nie gezeigt worden war. Der Nachthimmel wimmelte von unzähligen Sternen. Warum sollte nicht einer dieser blassen Lichtpunkte Pangäa heißen? Sehr wahrscheinlich sogar.
Müde und mit schweren Lidern löschte ich endlich die Kerze und streckte mich auf meiner Bettstatt aus. Die Dunkelheit tat den geschundenen Augen gut. Mir wurde erschreckend klar, nichts erfahren zu haben, was dabei hätte helfen können, etwas über Robs Aufenthaltsort herauszufinden. Eine ganze Woche war er nun schon fort. Vater hatte sich mehrfach erkundigt, ob ich nicht etwas wüsste, ob er am Ende nach Cape Travis verschwunden war, diesem Mädchen hinterher, in das er sich letzten Sommer verguckt hatte. Diese Erklärung erschien einleuchtend, und ich bestärkte ihn in diesem Glauben. Dennoch glaubte ich keine Sekunde daran. Mein Vater schien sich wenig Sorgen zu machen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sich sein ältester Sohn für einige Tage auf und davon gemacht hätte. Aber ohne Abmeldung? Ohne ein Wort? Das passte nicht zu ihm.
Der herannahende Schlaf griff nach mir. Doch noch weigerte ich mich, ihm nachzugeben. Was sollte ich nur tun? Wie sollte ich Rob aufspüren? Mit jeder Stunde, die verging, wurde mir sein endgültiger Fortgang bewusster, fühlte ich immer eindringlicher, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Konnte ich dann so einfach hier liegen und schlafen?
In jener Nacht glaubte ich endlich zu verstehen, warum mich jene Träume mit beunruhigender Regelmäßigkeit überfielen. Wieder stand mein Bruder im Mittelpunkt, er rannte wie ein Gejagter über endlos weite Wiesen. Ich sah sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht, das schweißnasse Haar, welches wirr an seinem Schädel klebte. Und schwarze Tränen, die in Strömen aus weit aufgerissenen Augen rannen.
Dann verlor er sich in der Entfernung, bis mir klar wurde, wie ein Vogel weit über ihm zu schweben, immer höher hinaufsteigend in ein grenzenloses Firmament. Am Horizont machte ich Berge aus, eine Gebirgskette mit hohen, schneebedeckten Gipfeln. Dahinter formte das Meer eine Bucht, die weit ins Land ragte. Dort an der Küste, umspült von eisgrauen Wellen, lag eine große Stadt, die von der Küste bis hinauf in die Berge reichte. Ein Meer aus schneeweißen Häusern. Ich flog direkt darauf zu, hatte Rob weit hinter mir gelassen. Die Wolken rissen auf und gleißende Sonnenstrahlen beleuchteten jene Stadt. Über sie hinweg schaukelnd sah ich nach unten, machte Einzelheiten aus, erkannte die schönen hellen Häuser zum größten Teil eingefallen, als hätte eine Naturkatastrophe das Gebiet erschüttert und Tod und Verderben gebracht. Dennoch wirkte sie so wunderschön erhaben und intakt, diese weiße Stadt, die sich von der See bis in die sie schützend umgebenden Berghänge hinzog.
Dann war der Moment vorüber, Wolken zogen auf und Regen fiel. Ich flog immer noch, aber jetzt wieder zurück, an einem breiten Flusslauf vorbei, der sich wie ein blaues Band durch das ebene, saftig grüne Land zog, und strich wieder über die schneebedeckten Kronen des Gebirgszuges. Ich sah Rob erneut laufen, auf das Gebirge zu. Wollte er es überqueren? Konnte ich ihn nicht aufhalten, ihn umdirigieren? Aber ich trieb an ihm vorbei, passierte ihn ohne bemerkt zu werden, und einen Flügelschlag später war er aus meinem Blickfeld verschwunden.
Die