Mein Blick fiel auf den rechten Ringfinger des Toten. Er war glatt in der Mitte durchgebrochen. Krister war beim Ablösen des Rings nicht zimperlich umgegangen. Kopfschüttelnd richtete ich mich wieder auf und blieb unschlüssig stehen. Hatte sich der Tote nicht ein anständiges Grab verdient? Der fortgeschrittene Zerfall sprach dagegen, die porösen Knochen umzubetten. Nein, hier, wo er seit einer halben Ewigkeit lag, sollte er auch bleiben. Ich beschloss, das Gerippe wenigstens notdürftig zu bedecken, jetzt wo es so offen dalag und keine Mauer mehr Schutz spendete.
Kurz entschlossen häufte ich mit Armen und Händen Sand und Kies an. Dabei berührte ich mit den Handkanten einen vergrabenen Gegenstand, der zuerst an einen Schaufelschaft erinnerte. Doch organische Substanz hätte längst vermodert sein müssen, und meine forschenden Finger erkannten sehr schnell, dass es sich mitnichten um Holz handelte. Nein, es war ein durchaus härteres Material, ich tippte sogleich auf Eisen. Schnell hatte ich ihn freigelegt, einen ungefähr anderthalb Meter langen Stab. Leicht lag er in der Hand, viel zu leicht. Eisen konnte es schlecht sein, nicht die Spur von Rost fand sich auf seiner stumpfen, silbergrauen Oberfläche. Material wie dieses hatte ich noch nie gesehen. Es war in der Tat leicht wie Holz, sah aber aus und fühlte sich auch an wie Metall. Mein Fund faszinierte mich von Sekunde zu Sekunde mehr. Was Krister wohl dazu sagen würde? Gewissenhaft führte ich die mir selbst auferlegte Arbeit zu Ende und bedeckte das Skelett von oben bis unten, bevor ich die Höhle verließ, den Strand hinunterlief und Krister stolz meine neueste Errungenschaft präsentierte.
„Liegt prächtig in der Hand“, meinte der nach einer ersten Untersuchung. „Merkwürdiges Material allerdings.“
„Ja, nicht wahr? Wahrscheinlich eine Schlagwaffe aus der Alten Zeit.“
„Zum Schlagen eignet sie sich auf jeden Fall prächtig.“ Krister holte weit aus und wirbelte den Stab fauchend umher. „Was meinst du, tauschen wir? Ring gegen Stab?“
Ich kam mir vor wie ein Leichenfledderer.
„Danke, kein Interesse“, gab ich kühl zurück. Mochte Krister seinen lumpigen Ring behalten. Mit diesem Stab ließ sich weitaus mehr anfangen.
Widerwillig händigte er ihn dann auch wieder aus.
„Also doch nicht nur altes Geschmier. Wer weiß, was noch alles vergraben da drinnen rumliegt?“
Ich wusste, was nun kommen würde. Immerhin erklärte sich Krister bereit, die unmittelbare Nähe des Skeletts unangetastet zu lassen. Doch all sein Buddeln und Wühlen brachte nichts mehr zu Tage. Wir hatten der Höhle alle Schätze entrissen.
Nach Einbruch der Dunkelheit legten wir uns zum Schlafen nieder. Ich starrte hinauf in den prächtig funkelnden Sternenhimmel und wurde mir zum tausendsten Mal meiner kleinen und unbedeutenden Existenz gewahr, diesen Wimpernschlag in der unendlichen Zeitrechnung des Universums. Der Gedanke gefiel mir vom ersten Moment an, als er mir vor vielen Jahren in den Sinn kam. Unbedeutend, ein Niemand zu sein, hatte etwas ungemein Beruhigendes an sich.
Das Lagerfeuer prasselte knisternd vor sich hin und zeichnete lange, flatternde Schatten des uns umgebenden Buschwerks. Niemand sprach eine Silbe, und als ich tief in Gedanken längst überzeugt war, dass Krister eingeschlafen war, meldete er sich ohne Vorwarnung zu Wort.
„Sicher bin ich nicht, ob ich all das wissen möchte, was wir im Begriff sind zu erfahren.“ Aha, auch ihm schien das Ergebnis des vergangenen Tages den Schlaf zu rauben.
„Wir wissen leider schon viel zu viel. Es lässt sich nicht mehr ändern.“
„Die Frage ist, ob ich all das glauben kann. Es klingt so phantastisch, so unwirklich. Stammen wir in der Tat von einem anderen Planeten? Bis heute hatte ich an so etwas nicht im Entferntesten gedacht. Und nun weigere ich mich einfach, es anzunehmen, nur weil es in irgendeinem Buch steht, das jemand vor Hunderten von Jahren geschrieben hat.“
Ich sagte darauf nichts. Dieser Zweifel war mir kein Unbekannter. Dennoch spürte ich, dass es der Wahrheit entsprach. Irgendetwas in mir weigerte sich standhaft, das ganze abzulehnen oder als bloßes Hirngespinst abzutun. Nein, da steckte mehr dahinter. Viel mehr.
„Gute Nacht, Krister.“ Schläfrig rollte ich zur Seite und zog die Decke enger zusammen. Der weiche und noch warme Sandboden erwies sich als bequemer und wohlriechender wie das muffige Stroh zuhause. Ginge es nach mir, schliefe ich immer im Freien.
Als ich hochschreckte, war das Feuer heruntergebrannt. Die Asche glimmte nicht mehr. Tiefste Dunkelheit herrschte, kein Stern leuchtete. Für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand. Warum war ich so jäh erwacht, wo mich nicht einmal der Anflug eines Traumes geplagt hatte? Es dauerte ein wenig, bis ich überzeugt war, nicht in unmittelbarer Gefahr zu schweben. Erst dann hörte ich das Flüstern. Wie ein leises Raunen drang es an mein Ohr, als wisperte mir der Wind eine geheime Botschaft zu. Ich lauschte schreckenstarr. Phantasierte ich oder spielte mir Krister einen üblen Streich? Wie versteinert lag ich da, unfähig auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
Was zum Teufel war das?
Endlich streifte ich die Starre ab und richtete mich auf. Das Geflüster dauerte an, es kam nicht aus Kristers Richtung, das stand fest. Nein, es kam von woanders her, von ganz woanders.
Das Flüstern kam aus der Höhle!
Es drang aus dem schwarzen Schlund!
In der Sekunde, in der es mir klar wurde, verstummte die leise Stimme. Lauschend stand ich da und fragte mich allen Ernstes, ob ich noch klar bei Verstand war. Sollte ich der Sache auf den Grund gehen? Die Fackel wäre schnell entfacht, keine Frage. Doch bei dem Gedanken, mich jetzt in die Höhle vorzuwagen, stellten sich meine Nackenhaare einzeln auf. Nein, nicht jetzt. Nicht mitten in der Nacht.
„Was ist los, Jack?“
Kristers Stimme ließ mich zusammenfahren. Fast hätte ich laut losgeschrien.
„Himmel, hast du mich erschreckt“, entfuhr es mir.
„Was stehst du da rum? Wieso schläfst du nicht? Wieder einer dieser Träume?“
„Sieht ganz so aus“, murmelte ich und legte mich umständlich wieder hin. Krister wach zu wissen und seine Stimme zu hören, beruhigte ungemein.
„Versuche wieder einzuschlafen“, sagte er. „Wir haben noch die halbe Nacht vor uns.“
„Ich gebe mein Bestes“, versprach ich. Tatsächlich dauerte es eine Ewigkeit, bis mein rastloses Gehirn den dunklen Schleiern der Müdigkeit erlag und ich endlich wegdämmerte. Stimmen vernahm ich nicht mehr. Jedenfalls keine, die aus der mysteriösen Höhle drangen.
04 AUFBRUCH
Die Sichtung der Ausbeute nahm weniger Zeit in Anspruch als zunächst angenommen. Der Zerfall des gesamten Materials schien im Zeitraffer abzulaufen. Sonnenlicht und salzhaltige Luft trugen wohl mehr dazu bei, als sich abschätzen ließ. Grob gesagt bröckelten die bereits stark in Mitleidenschaft gezogenen Schriften buchstäblich unter den Fingern weg.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schaffte ich die beiden Säcke und den eisernen Stab ins Haus und verwahrte alles in meiner Kammer. Tagsüber verhielt ich mich wie sonst auch und verrichtete die alltäglichen Arbeiten. Nach Sonnenuntergang aber, wenn es im Haus totenstill geworden war, ging ich gänzlich anderen Tätigkeiten nach. Im Licht herunterbrennender Kerzen verwandelte ich mich in einen Forscher auf einer Reise in die Vergangenheit. Wenig Schlaf gönnte ich mir in den Nächten meines Studiums. Einzelne Puzzlestücke, die ich verschiedenen Quellen entnahm, formten allmählich ein Bild. Vieles, was ich bereits beim ersten groben Durchblättern zusammen mit Rob auf Radan erfahren hatte, vertiefte sich auf der einen Seite, widersprach sich auf der anderen – oder zumindest kam es widersprüchlich vor – und warf neue Fragen auf. Fragen, auf die