Krister stand sofort auf meiner Seite, eine Tatsache, die mich mächtig freute. Er war mit Sicherheit kein Fantast, dennoch glaubte auch er an einen Zusammenhang zwischen Robs Verschwinden und meinen nächtlichen Heimsuchungen. Meinen Verdacht teilte er rückhaltlos. Oder war es die reine Abenteuerlust, war es das Wissen, eine wenn auch schwache Legitimation in den Händen zu halten, das alte Tabu zu brechen?
Sein Vorschlag, das Boot zu nehmen, um mit dessen Hilfe Hyperion anzusteuern, erschien mir erstklassig. Die Reise über die Tethys würde uns bei gutem Wetter und günstigem Wind den beschwerlichen Fußmarsch durch ganz Aotearoa ersparen und darüber hinaus viele Tage an Zeitgewinn bringen. Zwar hing unsere wirtschaftliche Existenz mitnichten vom Fischfang ab, mir war dennoch nicht wohl bei dem Gedanken, das Boot meines Vaters für dieses Vorhaben zu „borgen“, wie Krister es nannte. Natürlich konnte man das Ganze auch aus anderem Blickwinkel betrachten. Mit Robs und meinem Ausscheiden gab es in der Familie niemanden mehr, der Fischfang betrieb, demzufolge auch der Kahn dem Vater keinen Nutzen brachte. Dennoch, irgendetwas störte mich an all dem. Ich konnte das Boot nicht ohne Erlaubnis entwenden, es käme mir wie Diebstahl vor.
„Das ist Blödsinn“, hielt mir Krister sogleich entgegen. „Er bekommt es doch wieder zurück. Es steht ihm nur für einen gewissen Zeitraum nicht zur Verfügung.“
„Ich kann das nicht verantworten.“
„Und was ist mit Rob? Mit jedem Tag den wir warten, werden die Chancen geringer ihn einzuholen. Kannst du das verantworten?“
Ich blickte meinen guten Freund unverwandt an. Seine kühlen blauen Augen waren eindringlich auf mich gerichtet. Er machte es mir nicht leichter, wenn er mich vor die Wahl stellte, zwischen Rob und meinem Vater zu entscheiden.
„Aber wenn es dich beruhigt, kann ich dafür sorgen, dass das Boot nach unserer Ankunft in Hyperion sofort wieder zurücksegelt“, fügte er hinzu. „Das würde für deinen Vater nur einen Ausfall von drei Wochen bedeuten. Vielleicht sogar weniger.“
Das hieße, eine vierte Person einzuweihen, etwas, das ich unter allen Umständen vermeiden wollte.
„Und an wen denkst du?“ fragte ich ihn betont nebensächlich. Ich war sicher, er meinte Scott Adair.
„An Luke natürlich.“
„Wie bitte?“ Er hatte mich überrascht. Einen Taubstummen ins Vertrauen zu ziehen, hätte ich mir vielleicht noch gefallen lassen. Aber Luke? „Dir scheint nicht ganz klar zu sein, was vor uns liegt. Wir können uns keinesfalls noch mit deinem kleinen Brüderchen belasten.“
„Jetzt hör mal zu, Jack! Mir ist sehr wohl bewusst, auf was wir uns einlassen. Luke ist ein hervorragender Bootsmann, er weiß sehr wohl, wie er mit einem Segler umzugehen hat. Wir reisen zu dritt bis nach Hyperion, wo wir von Bord gehen. Luke wird dann alleine wieder zurücksegeln. Ich sehe da nicht das geringste Problem. Wir erreichen Hyperion in Rekordzeit, und das Boot steht deinem Vater in ebensolcher wieder zur Verfügung. Wenn wir Rob gefunden haben, kehren wir auf dem Landweg zurück.“
„Krister, das ist kein Abenteuerausflug an die December Bay. Auf den Seeweg nach Laurussia haben sich meines Wissens die letzten fünfzig Jahre keine Menschen mehr gewagt, jedenfalls keiner aus Stoney Creek. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mir selbst eine gefährliche Reise wie diese zutrauen darf. Eines aber weiß ich ganz genau: mit deinem kleinen Bruder im Schlepptau darf ich es ganz gewiss nicht.“
„Woher willst du das wissen?“ warf mir Krister entgegen. Ich wollte sofort etwas erwidern, doch unterbrach er mich mit einer unwirschen Handbewegung.
„Du kannst das Boot natürlich auch irgendwo in der Hyperion Bay zurücklassen und hoffen, es irgendwann später wieder intakt vorzufinden, falls wir jemals wieder dorthin zurückkehren.“
Ich sagte nichts. Krister spürte meine Unentschlossenheit und fuhr mit versöhnlicher Stimme fort: „Luke kann uns durchaus sehr nützlich sein. Er ist der beste Botaniker, der mir je unter die Augen gekommen ist. Er kennt Pflanzen beim Namen, von deren bloßer Existenz ich nicht die geringste Ahnung habe. Und er weiß vor allem, welche genießbar sind und welche man besser nicht anrührt. Verstehst du?“
Ich schüttelte beharrlich den Kopf.
„Du willst nur nicht verstehen. Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, von was wir uns in den bevorstehenden Wochen ernähren wollen? Willst du nur Kaninchen und Skirrets fressen, bis dein Zahnfleisch fault? Grünzeug, Jack. Sagt dir das wirklich nichts?“
Okay, ein Punkt für Krister. Natürlich konnten wir uns nicht nur von Fleisch ernähren. Eine Thematik, der ich in der Tat wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Und mit Pflanzen hatte ich wirklich wenig am Hut. Alles essbare Grünzeug kultivierten die Bauern Stoney Creeks auf den Feldern östlich und westlich der Siedlung. Von den wilden Arten, die für eine Mahlzeit gut waren, wusste ich so gut wie nichts.
„Gut, Lukas hat den grünen Daumen. Und was weiter?“
„Er ist ausdauernd und kein Schwächling. Ich meine, du kennst ihn doch einigermaßen. Einen naturverbundeneren Menschen habe ich noch nicht getroffen. Und er ist zuverlässig. Wenn ich ihm sage, er soll dein Boot unversehrt zurückbringen, wird er es tun. Außerdem besteht keinerlei Veranlassung, ihn in die ganze Geschichte einzuweihen. Warum wir Rob in Hyperion vermuten, geht ihn ja nun wirklich nichts an.“
Nachdenklich geworden nickte ich.
Lukas...
Obwohl er bereits seit Jahren bei Krister lebte, waren weder meine noch Robs Kontakte zu ihm erwähnenswert. Bei keiner unserer Unternehmungen war er je dabei gewesen, weder beim Fischfang noch auf der Moajagd. An Bootsfahrten hinüber nach Kap Aló, das bereits zu Cimmeria gehörte, oder quer durch die December Bay bis hinein in das aufregend verwinkelte Flussdelta des Angara River, um dort Stamarinas nachzustellen, hatte er kein einziges Mal teilgenommen. Er war eben immer „zu klein“ dafür gewesen.
Krister selbst sprach selten über den Stiefbruder, der seit dem Tod der leiblichen Eltern erst bei den Bergmarks und später bei Krister lebte. Alles, was er mir erzählt hatte, betraf den mysteriösen Tod des Vaters (er verschwand spurlos beim Fischen vor Geirfuglasker) und den darauf folgenden Selbstmord der Mutter, die den Verlust ihres Mannes nicht verkraftete.
Wären die Schilts und die Bergmarks direkte Nachbarn gewesen, hätte das ganze schon aufgrund der räumlichen Nähe sicherlich anders ausgesehen. Doch waren wir bereits als Kinder nie in die jeweils andere Familie integriert, eine in der Tat eigenartige Konstellation, wenn man genauer darüber nachdachte, die sich auch im Laufe unserer späteren Jugend nicht veränderte. Krister war der einzige von den Bergmarks, den ich gut kannte. Er war (abgesehen von Mats Sevenster) Robs bester Freund, und da ich schon früh viel Zeit mit meinem Bruder verbrachte, entwickelte sich auch zwischen mir und Krister Bergmark eine Freundschaft, welche sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr vertiefte. Selbst seine jüngere Schwester Britt-Marie blieb mir relativ unbekannt.
Ich erklärte mich also einverstanden, mir das Ganze durch den Kopf gehen zu lassen. Krister wollte Lukas natürlich auch erst fragen, doch las ich in seinem Gesicht, die Antwort jetzt schon zu wissen.
Am frühen Abend marschierte ich rüber zu Kristers Haus und traf ihn auf halbem Weg am Waldrand beim Holzhacken. Ich hatte ihn noch einmal alleine sprechen wollen, bemerkte aber Lukas in seiner Nähe, der bei der Arbeit half. Eine Weile beobachtete ich die beiden. Auf die gleiche verwirrende Weise, in der ich vor wenigen Stunden das Älterwerden meines Vaters bemerkt hatte, stellte ich nun fest, wie sehr sich Lukas entwickelt hatte. Das war kein Junge mehr, der kurz herübersah und dann das Beil kraftvoll sinken ließ. Nein, er war ein Mann geworden, verfügte annähernd über meine Größe. Er trug die gleichen Klamotten wie Krister, ein kupferbraunes Oberteil aus gefärbtem Leinen, hier und da abgewetzt und eingerissen, dazu Hosen neuerer Fertigung aus gleichem Stoff und in annähernd derselben Farbe, die ihm bis knapp über die Knie reichten und den Blick