Erstmals gab der abgetrennte Teil der Höhle seine wahren Ausmaße preis. Und die waren bei weitem nicht sonderlich aufregend. Überall lagen sie verstreut auf einer Fläche nicht größer als der meiner Kammer zuhause in Stoney Creek, jene Schriften, die ich vor nicht all zu langer Zeit wieder achtlos an ihren angestammten Platz geworfen hatte.
„Vorsicht!“ warnte ich. „Noch einen Schritt weiter und du trittst deinem armen Kerl mitten ins Gesicht.“
Krister ging in die Knie und räumte einige Bücher von dem Toten herunter.
„Herrje, du hast Recht, der liegt schon etwas länger hier. Die Knochen sind ja schon zerbröselt. Was haben wir denn hier?“
„Was machst du denn da? Würdest du das Gerippe bitte in Ruhe lassen?“
„Stell dich nicht so an! Sieh mal! Ist der nicht wunderschön?“ Krister hielt mir sein Fundstück entgegen. Zuerst dachte ich, es sei ein dunkler Kiesel, dann sah ich jedoch im Licht der Fackel die metallene Fassung. Ein Ring! Kein wirklich ansehnlicher, aber ein Ring. Wenige Sekunden später steckte er bereits an Kristers Finger. Als er mein entrüstetes Gesicht sah, erwiderte er nur: „Der Knochenmann hier wird ihn sicherlich nicht mehr brauchen.“
Ich verbiss mir den passenden Kommentar, ließ nur ein gezischtes „Grabräuber!“ durch die Zähne entwischen und machte mich daran, die ersten Bücher aufzusammeln.
„Ich begreife immer noch nicht, wo du einen Zusammenhang zwischen diesen Wälzern und Robs Verschwinden siehst.“ Krister richtete sich wieder auf.
„Denkst du etwa ich? Deswegen sind wir hier. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als den ganzen Haufen Geschmier genauestens unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht finden wir einen Hinweis, der uns weiterhilft.“
Mein guter Freund sah mich zweifelnd an. Sein Blick stimmte mich angriffslustig, nahm er mir doch von der wenigen Zuversicht, die noch vorhanden war.
„Was sollen wir sonst tun?“ rief ich und zeigte damit ungewollt, wie wenig ich selbst an den Erfolg der ganzen Aktion glaubte. „Ich sehe nur diese Möglichkeit.“
„Du hast ja Recht. Los, bringen wir den ganzen Mist raus!“
Nun begann die eigentliche Arbeit, das erneute Aussortieren. Ging ich anfangs noch mit Sorgfalt vor, änderte sich das relativ schnell. Was noch nicht völlig kaputt war, war es spätestens, nachdem Krister oder ich es inspiziert hatten. Leserliche Passagen rissen wir achtlos heraus und stapelten sie neben einem immer höher werdenden Haufen Abfall. Jeder Fetzen Information konnte von Nutzen sein, nichts von dem, was für uns verständlich war, durfte verloren gehen.
„Das meiste Zeug ist in einer Sprache geschrieben, die kein Mensch lesen kann“, sagte Krister irgendwann. „Was machen wir damit?“
Ich zuckte mit den Achseln.
„Hier lassen, denke ich. Wenn wir es nicht entziffern können, wer dann? Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas davon irgendjemandem zu zeigen. Wem auch?“
Krister nahm dies nickend zur Kenntnis.
Alsbald hielt ich die Sammlung vergilbter Landkarten in den Händen, die Rob vor wenigen Tagen, als die Welt noch in Ordnung schien, so beeindruckt hatte. Ich öffnete den zerbröselnden ledernen Umschlag und nahm die erste Karte heraus, die den nordöstlichen Teil Gondwanalands darstellte. Meine Augen suchten und fanden Stoney Creek ganz im Nordwesten. Dann wanderten sie langsam nach Süden, durch Aotearoa, über das Zentralmassiv hinein nach Laurussia mit seiner alten Hauptstadt Hyperion und weiter über die Verfluchten Berge in ein Land, das ich nach einigen Mühen als „Ar-Nhim“ entzifferte.
Ich stutzte. Diesen Namen hatte ich doch schon einmal gelesen. Ob er dem Vokabular der Opreju entlehnt war? Oder der Uhleb?
Ah, dort lag also die Große Caldera, im Herzen Yalgas. Und am unteren linken Kartenrand ein riesiges Gewässer, der Taorsee. Obwohl schon beträchtlich lädiert, waren einige wenige Farben erhalten geblieben, vor allem das tiefe Blau der Gewässer und das Eisenbraun der Gebirge. Hier und da fanden sich noch olivgrüne Tupfer, die einst stilisierte Wälder kolorierten. Als ich mit dem Fingernagel sacht über das Kobaltblau der Tethys strich, bröckelte Farbe ab und hinterließ den Hauch eines Schattens auf nacktem, vergilbtem Pergament. Behutsam schloss ich den Umschlag wieder, stufte ihn als wertvoll ein und bettete ihn vorsichtig in den Sand. Neben anderen Schriften, die ich bereits durchforstet hatte, fiel mir auch das Tagebuch von Philip J. Patterson wieder in die Hände. Ich nahm mir vor, es genauer zu studieren und legte es ebenfalls beiseite.
„Dies hier dürfte so etwas wie eine Chronik sein“, meldete sich Krister. „Nach Jahren sortiert, so wie es aussieht. Beginnt im Jahre 51.“
„In unserer Sprache geschrieben?“ erkundigte ich mich leicht abwesend.
Krister warf mir den schweren, großformatigen Band zu.
„Und ob. Aber pass auf, die Seiten sind lose!“
„Gar nicht mal so schlecht erhalten.“ Beim Öffnen des Einbandes fiel mir der halbe Inhalt entgegen. Poröse, zum Teil aufklappbare Innenseiten verschieden großer Formate mit mehr oder weniger gut erhaltenen gedruckten Illustrationen aller Art weckten mein Interesse. Detailgetreue Bilder von Tieren, die ich nur zum Teil erkannte. Akribisch genau wiedergegebene Pflanzen und Bäume. Herrliche Landschaftsabbildungen, Fotografien, wie ich annahm. Die Kunst des Fotografierens war nach dem Großen Krieg verlorengegangen. Wohl gerade deswegen faszinierten mich Fotografien so sehr. Eine Menge Aufnahmen von wunderschön gemauerten Häusern mit meisterhaft gearbeiteten Fassaden, überdachten Terrassen und kunstvoll verzierten Säulen. Ansichten einer großen Stadt, die vom Meer bis in die Berge reichte. Womöglich bestand sie aus den vielen schönen Häusern, die ich ein paar Seiten vorher bewundert hatte. Dann folgten mehrere Darstellungen von grotesk anmutenden, walzenförmigen Gebilden auf vier oder auch sechs Laufrädern, darunter welche mit starr abstehenden, flügelartigen Auswüchsen.
Sehr eigenwillig.
Aber das Beste daran: alle Abhandlungen, jede Notiz war in unserer Sprache geschrieben. Es würde sich also für alles eine Erklärung finden. Mein Interesse wuchs von Seite zu Seite. Beim ersten Mal war mir dieser Band gar nicht aufgefallen. Das versprachen lange Abende zu werden. Ich konnte es kaum erwarten, das Bild von Gondwana korrigiert zu sehen.
Der gebratene Speck roch köstlich. Krister legte noch einen Armvoll Feuerholz nach. Inmitten der Glut schmorten Kartoffeln in ihrer Schale. Erst jetzt bemerkte ich, wie hungrig ich war und vergab Krister, der mich irgendwann hatte alleine sitzen lassen, um sich so etwas Niederem wie der Verköstigung zu widmen. Da wir davon ausgegangen waren, die Nacht auf Radan zu verbringen, durfte es natürlich nicht an Proviant fehlen. Dafür war bestens gesorgt. Als Krister ein Dutzend Eier aufschlug und in dem ausgelassenen Speck anbriet, war es endgültig um mich geschehen. Hungrig wie ein Wolf fiel ich über meine Ration her.
„Schon irgendetwas Aufschlussreiches herausgefunden?“ fragte Krister mit vollem Mund.
Ich schüttelte den Kopf. Davon war ich auch nicht ausgegangen. Das genaue Studium der Funde würde wahrscheinlich Tage in Anspruch nehmen. Immerhin hatte sich ein ansehnlicher Berg von verwertbarem Material angesammelt. Ich brannte darauf, den vielen verwelkenden Seiten ihr Geheimnis so schnell wie möglich zu entlocken, als erwartete ich in Bälde ihren unwiderruflichen Zerfall.
Bis zum Sonnenuntergang hatte ich es schließlich geschafft, die Spreu vom Weizen zu trennen. Krister stopfte die Ausbeute in zwei Leinensäcke, die wir zum Boot schleppten. Während er das Nachtlager direkt am Strand bereitete, machte ich mich daran, die aussortierten Schriften, die sich noch immer auf dem nackten Sandboden türmten, in die Höhle zurückzubringen. Bedeutend behutsamer als beim erstenmal stapelte ich sie hinter der zusammengestürzten Mauer auf, akribisch darauf achtend, nicht auf unseren armen Kerl zu treten. Nachdenklich ging ich in die Knie und betrachtete im Licht der Fackel die Überreste des Toten. Er lag auf dem Rücken, ganz so als wäre er im Schlaf gestorben. Jedenfalls redete ich mir das ein.
Das Skelett erschien männlich, ich führte es auf die markanten