Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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      „Das geht schon wieder vorbei, keine Sorge.“ Damit erhob er sich. „Kalt heute Abend. Ich leg‘ mich wieder hin.“

      Ich sah ihm nach. Der Frühling lag zwar erst seit kurzem in der Luft, doch von einem kühlen Abend konnte nicht die Rede sein, empfand ich doch gerade die letzten Tage als ungewöhnlich warm für die Jahreszeit.

      Anderntags wirkte Rob wie verwandelt. Er sprühte vor Tatendrang, konnte es gar nicht abwarten, zum Fischfang zu gehen. Wieso er mich nicht dabeihaben wollte, erklärte er nicht. Also ließ ich ihn gewähren. Nichts Ungewöhnliches an sich. Zuweilen zog mein Bruder ähnlich wie ich die Einsamkeit vor. Doch bei all den Ungereimtheiten seit der Rückkehr von Radan vermutete ich hinter jeder seiner Äußerungen und Taten etwas Befremdliches.

      Lange sah ich dem Boot hinterher, das in nordöstlicher Richtung verschwand. Mehrfach beschlich mich das unangenehme Gefühl, ihn nicht alleine hätte ziehen lassen zu dürfen. Den ganzen langen Tag über machte ich mir Vorwürfe, zu schnell nachgegeben zu haben. Was, wenn ihm etwas zustieß? Noch nie hatte ich mir um meinen Bruder Sorgen gemacht, er genoss mein vollstes Vertrauen. Wieso hatte sich das geändert? Zweifellos war er körperlich angeschlagen, schon allein der Zustand seiner Augen bekundete es. Inwieweit konnte ich, ja durfte ich, weiter in ihn dringen, einen Medikus aufzusuchen, ohne das Gegenteil zu bewirken?

      Der Abend brach an, die ersten Boote kehrten heim, unter ihnen auch Krister und Scott. Geduldig wartend saß ich am Strand und beobachtete sie beim Ausladen.

      „Hey, Krister. Na, wie war’s?“ rief ich ihnen zu, wenn auch es mich augenblicklich nicht im Mindesten interessierte.

      „Ordentlicher Fang heute. Wenn ihr wollt, kommt später rüber, wir haben eine Menge Scharen gefangen, das gibt einen Festschmaus. Ist Rob noch draußen?“

      Ich nickte. Krister bemerkte meine Anspannung, ging aber nicht näher darauf ein, auch wenn ich es mir gewünscht hätte. Er erneuerte lediglich seine Einladung.

      Rob kehrte erst Stunden später zurück. Ein spektakulär strahlender Ebrod half dabei, ihn endlich ausfindig zu machen. Lange war ich mir nicht im Klaren darüber, ob er es überhaupt war, doch innerlich siegte schon früh die Überzeugung, selbst wenn unser Boot aus der Ferne wie alle anderen aussah. Zu dieser vorgerückten Stunde befanden sich nicht mehr viele Fischer auf dem Meer. Um meinem Bruder nicht den Eindruck zu geben ich überwachte ihn, entfernte ich mich von unserer Anlegestelle und ging ein Stück den Strand hoch, um dort zu warten. Wenn er einen guten Tag gehabt hatte, würde er hilfreiche Hände brauchen und meine Anwesenheit ohnehin begrüßen. Dennoch wollte ich es nicht so offensichtlich aussehen lassen.

      Warum um alles in der Welt beschlich mich mit jedem Meter, den der Kahn näherkam, ein ungutes Gefühl? Irgendetwas stimmte nicht. Wieso kroch das Boot so langsam heran? Gut, es herrschte bereits ablandiger Wind, aber von großräumiger Luftbewegung keine Spur. Dann erkannte ich endlich, was mich störte.

      Das Boot war leer!

      Ich sprang auf die Füße. Verbarg sich Rob hinter dem Segel und entzog sich somit meinen Blicken? Er musste an Bord sein, von selbst konnte das Boot unmöglich zurückgefunden haben.

      An der Wasserlinie blieb ich stehen und wartete ungeduldig die letzten Meter ab. Aufgrund des kaum vorhandenen Wellengangs steuerte das Boot ohne nennenswertes Schaukeln gemächlich auf die Küste zu. Erst kurz bevor es auf Grund lief, machte ich schließlich alle Einzelheiten aus. Es saß in der Tat niemand am Steuer. Dennoch war der Kahn nicht führerlos. Rob lag reglos auf den Planken, den Kopf nach achtern gerichtet. Sein rechter Arm hielt das Ruder in der Ellenbeuge umklammert.

      Ich zog das Boot den Kies hoch und sprang hinein. Nicht ein einziger Fisch war an Bord. Just in diesem Moment zog sich Ebrod hinter eine Wolke zurück. Nur noch schemenhafte Umrisse ließen sich ausmachen. Aufgewühlt kniete ich nieder und drehte meinen Bruder auf den Rücken. Trotz der miesen Lichtverhältnisse entgingen mir die dunklen Flecken auf seiner in deutlich helleren Tönen schimmernden Gesichtshaut nicht. Er starrte mich aus zwei milchig leuchtenden Augen an. Für einen Augenblick blitzten zwei Reihen Zähne auf, als beabsichtigte er mich zu beißen. Ich zuckte instinktiv zurück und hielt alarmiert inne, als der Mond wieder aus der Wolke hervortrat. Ich musste mich geirrt haben. Robs Augen sowie sein Mund waren geschlossen. Nur die dunklen Flecken blieben. Und ich hatte sehr wohl eine Ahnung, wovon sie herrührten. Morgen würde ich Marten um einen Hausbesuch bitten, auch wenn sich jemand mit Händen und Füßen dagegen wehren sollte! Erst nach mehrmaliger Wiederholung seines Namens und mit Hilfe zweier Ohrfeigen schlug Rob die Augen auf.

      „Rob, was ist geschehen?“

      „Müde…“, kam die Antwort, und ich fühlte mich auf verwirrende Weise an den gestrigen Morgen erinnert.

      „Kannst du gehen?“ Umständlich half ich ihm auf die Füße. Nur meiner Hilfestellung verdankte er es, nicht sofort wieder einzuknicken. Wie einen alten Mann stützte ich ihn auf dem Weg ins Haus. In dieser Situation hätte ich so gerne unseren Vater ins Vertrauen gezogen, so überfordert fühlte ich mich. Aber er schlief bereits, so verschob ich dieses Vorhaben auf den kommenden Morgen. So konnte es nicht mehr weitergehen. Rob war zweifellos krank und benötigte Hilfe. Gleich morgen früh würde ich dafür sorgen, dass er sie auch bekam.

      Rob fiel mit dem Gesicht zuerst auf sein Bett und blieb reglos liegen. Wie ein Kleinkind zog ich ihm die feuchten Klamotten vom Leib. Die Kälte seiner Haut irritierte. Bis zum Hals zugedeckt lag er endlich da. Besorgter denn je ließ ich mich auf der Bettkante nieder und beobachtete ihn im Licht der leise flackernden Kerze. Die schwarzen Flecken unter seinen geschlossenen Augen starrten mich feindselig an. Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, sie mit einem Tuch wegzuwischen, schlug Rob die Augen auf. Eigentlich ein gutes Zeichen. Doch gefiel mir nicht die Art, wie er sie aufschlug. Es geschah zu schlagartig und passte nicht zu seiner geschwächten körperlichen Verfassung.

      „Wie geht es dir?“ flüsterte ich.

      Rob schluckte.

      „Nicht gut“, kam die schwache Antwort. Diese beiden Worte, so besorgniserregend sie sich auch anhören mochten, trugen paradoxerweise zu meiner Beruhigung bei. Seine eigene Schwäche eingestehend würde er die Anwesenheit eines Medikus womöglich eher zulassen.

      „Hast du Schmerzen?“

      Rob verneinte.

      „Was geht hier vor?“ fragte ich ihn. „Seit unserer Rückkehr aus Radan stimmt etwas nicht mit dir.“

      Von einer Sekunde auf die andere zeigte mir Rob auf alarmierende Weise, wie viel ungeahnte Kraft noch in ihm steckte. Ich fuhr regelrecht zusammen, als er fauchte: „Ich will dieses Wort nicht mehr hören! Lass es!“

      Aus großen Augen musterte ich den fremdartig gewordenen Bruder, der nach dieser Anstrengung in sich zusammensank. Mit geschlossenen Lidern und energieloser Stimme wisperte er: „Ich bin so müde… so sehr müde.“

      Für einen minimalen Moment drängte sich der absurde Eindruck auf, vor mir zwar äußerlich meinen Bruder zu haben, in seinem Inneren aber schienen zwei völlig verschiedene Wesen zu hausen, die mal mehr mal weniger die Oberhand erlangten. Die pure Abwegigkeit dieses irrsinnigen Gedankens ließ ihn mich auch schnell wieder beiseiteschieben. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich, wie erschreckend nahe ich für einen verschwindend kurzen Atemzug der Wahrheit gekommen war. Wie hätte ich es zu jenem Zeitpunkt auch ahnen sollen? Selbst wenn, was hätte ich tun können, um meinem Bruder beizustehen? Nichts.

      Bevor er hinweg dämmerte, öffneten sich seine Augen noch einmal. Langsam, ganz langsam, teilten sich die Lider. Schwarze Tränen drängten hervor, die im schwachen Kerzenlicht wie Blut aussahen. Endlich fand er meinen Blick. Seine Lippen bebten.

      „Was willst du mir sagen?“ Ich brachte das Gesicht nahe an seines.

      Rob stammelte etwas Verworrenes. Verständnislos sah ich ihn an. Dann begriff ich. Er hatte Angst. Todesangst. Seine eiskalte Hand berührte die meine. Dies geschah unerwartet, und ich erschrak unwillkürlich.

      „Rob, bitte sag, was hier vorgeht! Ich werde Vater holen. Das hätte ich schon viel früher