Sentry - Die Jack Schilt Saga. Michael Thiele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Thiele
Издательство: Bookwire
Серия: Die Jack Schilt Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651994
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ich es nicht einen Augenblick in Erwägung ziehen, dort leben zu wollen. Nein, ich gehöre nach Stoney Creek und Stoney Creek gehört zu mir. Nirgendwo anders spüre ich deutlicher, was Heimat bedeutet, auch wenn mir die Verschlafenheit meines Dorfes mitunter gegen den Strich geht.

      Im Vergleich mit den anderen Siedlungen wirkt Stoney Creek ärmlich, zurückgeblieben, ja heruntergekommen. Es gibt nur wenige Gebäude aus Stein, die weit überwiegende Mehrzahl ist aus dem Material gebaut, das es in Hülle und Fülle gibt: Holz. So auch mein Elternhaus, in dem ich lebe, seit ich denken kann. Von dort aus begann ich bereits im zarten Knabenalter die Welt zu erforschen. Zunächst zusammen mit Rob, meinem wenige Jahre älteren Bruder und Beschützer, später auch mit der Handvoll Freunde, denen ich diesen edlen Status verleihen durfte. Viele waren es beileibe nicht. Womöglich lag es an der schon früh tief in mir verwurzelten Sehnsucht nach Zurückgezogenheit. Ich muss für all die anderen ein seltsamer Junge gewesen sein. Schon von klein an strich ich am liebsten allein durch den Wald, wenn möglich den ganzen Tag lang, an den entlegensten Plätzen, wo mir mit Sicherheit niemand begegnete. Dort nahm mich meine Einbildungskraft gefangen und ich versank in meiner eigenen Welt aus seliger Zufriedenheit. Stundenlang konnte ich auf dem Bauch liegend am Eisbach verbringen und den Fischchen zusehen, die sich im kühlen Nass tummelten, einander spielerisch jagten und bei der geringsten Störung pfeilschnell in den Schutz spendenden Schatten der Weidenruten verschwanden.

      Später, als ich als Halbwüchsiger gelernt hatte, mit einem Boot umzugehen, eroberte ich das Meer und wagte mich entgegen aller Verbote schon früh hinaus in die Inselwelt der Bay of Islands, wo es so unendlich viel zu entdecken gab. Nicht immer war Rob zugegen, und ich genoss es noch ein Stück weit mehr, die eine oder andere geheime Bucht ganz allein und ohne seine Hilfe oder Aufsicht in Besitz zu nehmen. Die Natur und ich, wir waren eins, wir gehörten zusammen, sie war die Liebe meines Lebens. Nach den Pflichten des Tages, die mit zunehmendem Alter anstiegen, gab es nur eines: bei welchem Wetter auch immer hinaus nach draußen, in den Wald, an den Bach oder auf die See. Dort – und nur dort – lernte ich, was Freiheit und Erfüllung bedeuteten.

      Nur wenige Gleichaltrige fanden sich, die meine Leidenschaft mit ähnlicher Inbrunst teilten. Und nur diesen wenigen gewährte ich Zugang zu meiner Welt. Rob als mein Bruder empfand auf vergleichbare Weise, wobei er anders als ich immer einen gewissen Nutzen anstrebte. Ihm genügte es nicht, an einem schönen Ort zu verweilen, umherflatternden Schmetterlingen zuzusehen oder schillernde Vögel zu beobachten. Ihm verlangte es nach Eroberungen anderer Art. Seine Jagdleidenschaft erwies sich als ausgeprägter. Zu einem gelungenen Tag gehörten für ihn ein Netz voller Fische oder ein erlegter Moa, etwas, auf das ich gerne verzichten konnte. Doch zählte das Fischen schon bald zu meinen Pflichten, auch wenn es lange Zeit in Anspruch nahm, bis ich einen Fisch ohne Reue töten konnte.

      Wenn auch jene Pflichten von Jahr zu Jahr wuchsen, brachen wir immer wieder aus, nahmen das Boot und verschwanden tagelang in der December Bay, erkundeten Kap Aló, das bereits außerhalb Aotearoas liegt, tauchten in das geheimnisvolle Delta des Angaraflusses ein oder erforschten die Inselwelt vor der Küste Avenors. Manchmal zu zweien, manchmal zu dritt, wenn Robs guter Freund Mats sich hinzugesellte. Aber immer machte es alleine am meisten Spaß, erlebte ich alle kostbaren Einzelheiten intensiver, hinterließen Eindrücke weitaus tiefere Spuren, als wenn ich sie mit anderen teilte. Oh ja, ich muss ein seltsamer Junge gewesen sein.

      Dieser Lebensabschnitt, meine Kindheit, eingebettet in ihre unwiederbringliche Unbekümmertheit, liegt bereits weit hinter mir. Mit der Heimkehr von Radan ging die nächste Epoche zu Ende, verlor sich das verspielte Dasein der Jugendzeit mit furchterregender Schnelligkeit. Mit ihr endete die kostbarste Zeit meines Lebens, endete meine Jugend. Und sie erlosch bei Weitem zu früh. Der Name Radan steht stellvertretend für den einschneidendsten Umbruch, den mein Leben je erfahren sollte.

      Robs Veränderung vollzog sich in dramatischem Tempo. Mit drückenden Kopfschmerzen und ungewöhnlich dunklem Tränenfluss hatte es angefangen, beunruhigende Vorgänge fürwahr. Schlimmer und tragischer jedoch stellte sich für mich, seit jeher mit überaus sensiblen Sensoren ausgestattet, welche die kleinste Abweichung im Verhalten anderer schonungslos wahrnahmen, sein enormer Verhaltenswandel dar.

      Rob schien nicht mehr der Rob zu sein, den ich kannte.

      Schon am ersten Tag nach der Heimkehr benahm er sich eigenartig distanziert und sprach nur das Nötigste. Auf unser jüngstes Erlebnis angesprochen, überraschte er mit gegensätzlichen Reaktionen: bald mit übersteigertem Interesse, bald mit unwirscher Ablehnung. Was auch immer in ihm vorging, es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, dafür kannte ich meinen Bruder zu gut.

      Zunächst beruhigte ich mich mit dem tröstlichen Glauben, es würde vorüber gehen. Doch im Gegenteil, am darauffolgenden Morgen wurde die Sache noch ernster. Wie üblich war ich in aller Frühe aufgestanden, damit wir noch vor Sonnenaufgang auf See sein konnten, um die Netze auszuwerfen. Gewöhnlich war Rob vor mir auf den Beinen. Diesmal nicht. Ich fand ihn entkleidet in seiner Kammer, bäuchlings auf dem kalten Boden liegend, als wäre er im Begriff gewesen zu Bett zu gehen, bevor er zusammenbrach. Ein Blick in sein teilweise schwarz verfärbtes Gesicht jagte mir dann so richtig Angst ein. Das flackernde Kerzenlicht in meinen zitternden Händen beleuchtete eine unvergessliche Szenerie. Einen grauenhaften Moment lang griff eine kalte Hand nach meinem laut klopfenden Herzen. Aber nein, er atmete noch, er war nicht tot.

      „Rob?“ Meine Stimme zitterte. „Schläfst du?“

      Keine Antwort.

      Sachte rollte ich ihn zur Seite. Sein Gesicht ruhte in einer dunklen, klebrige Fäden ziehenden Pfütze. Mein Magen verkrampfte. War es Blut? Mit einer befremdlichen Mischung aus Neugierde und Furcht wagte ich einen genaueren Blick, die Kerze so nahe wie möglich neben Robs Antlitz haltend. Unvermittelt schlug er die Augen auf. In seinem Blick lag etwas Feindseliges, zutiefst Bösartiges. Erst als seine rissigen Lippen Worte formten, verschwand der unheilvolle Ausdruck aus seinen schwarzgeränderten Augen.

      „Jack? Bist du es?“ flüsterte er.

      Ich nickte. „Was ist passiert?“

      „Mir ist kalt. Furchtbar kalt.“

      Kein Wunder, wer weiß wie lange er schon nackt und bloß auf dem kalten Bretterboden lag. Ich half ihm auf. Sein Körper fühlte sich wie ein Eisblock und mindestens ebenso hart an. Erst als er gut zugedeckt im Bett lag, beruhigte ich mich wieder ein wenig.

      „Was ist passiert?“ wollte ich erneut wissen.

      „Müde“, kam die schwache Antwort, dann schlossen sich seine Augen. An diesem Vormittag war kein Wort mehr aus ihm herauszubekommen. Nachvollziehbar war mir die Lust zum Fischen vergangen.

      Im Verlauf des weiteren Tages sah ich mehrmals nach ihm, doch er schlief tief und fest. Meine Sorgen zogen weite Kreise. Mehrmals verwarf ich den Entschluss, unseren Vater zu Rate zu ziehen. Nein, ihn damit zu behelligen machte wenig Sinn. Seit Mutters Tod hatte er sich tief in seine innere Welt zurückgezogen, die er mit niemandem teilte. Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Jedenfalls noch nicht.

      Kurz vor Sonnenuntergang verließ Rob sein Lager. Ich sah ihn im Garten Wasser aus dem Brunnen schöpfen und stand auch schon neben ihm. Tatsächlich schien er sich nicht an das zu erinnern, was sich gestern des Nachts zugetragen hatte. Immerhin sah sein Gesicht wieder normal aus. Alles in allem wirkte er erfrischt und gestärkt. Beim Zubereiten der Abendmahlzeit half er nur wenig und aß noch weniger.

      „Hast du schon einmal daran gedacht, Marten wegen deiner Augen aufzusuchen?“ warf ich betont nebensächlich auf. Robs Abneigung gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit einem Medikus zu tun hatte, war mir wohlbekannt. Spätestens seit dem frühen Tod unserer Mutter hatte er jegliches Vertrauen in die wenigen Heilkünstler Stoney Creeks, die Blutegel, wie er sie nannte, verloren.

      „Ich sehe keinen Grund“, kam die knappe Antwort.

      „Aber ich sehe einen Grund.“ Mein suchender Blick fand den seinen. Eine ungewöhnliche Situation für beide von uns. Rob war nicht dafür bekannt, gut gemeinte Ratschläge anzunehmen, schon gar nicht welche seines jüngeren Bruders. Glücklicherweise fand ich mich nicht unbedingt oft in dieser unangenehmen Lage wieder.

      „Was