„Bitte nach euch, liebe Läuse“, rief Hoo ihnen in seiner freundlichen, zuvorkommenden Art von der Apfelsafttankstelle aus zu. Lässig, aufbruchbereit und dankbar umfasste er die beiden langen Strohhalme, die ihm die vielen Stunden seines Aufenthalts im Apfelbaum so versüßt und zu seiner lebenswichtigen, innerlichen Flüssigkeitsversorgung gedient hatten. „Checkt schon mal ein! Ich, äh, werde dann hinter euch meinen Platz einnehmen. So könnt ihr euch schützend an mich anlehnen, sollte euch die Sonne zu sehr blenden oder der aufkommende Gegenwind etwas zu übermütig blasen.“
„Ja, gerne. Das ist sehr lieb von dir. Danke, Hoo“, antwortete Birne fröhlich. „Hach, ich freu mich ja so!“
Mucks dagegen beschlich bei dem Gedanken an eine vielleicht schweißtreibende, windige Reise ein eher mulmiges Gefühl. Ihm war nicht geheuer. Humorig, seine Furchtsamkeit verbergend und leise vor sich hin murmelnd, äußerte er sich so: „Aufkommender Wind unter heißer Sonne? Oh ja, Hoo, dann ist das wirklich eine ausgezeichnete Idee von dir. Allerbesten Dank. Oumpf! Das kann ja, ha-ha-ha, heiter werden?!“
Umsichtig krabbelten sie nun auf Gechturs Federkäppi. Mittendrin im Gefieder richteten sie sich ein kuscheliges Plätzchen ein. Daraufhin schwenkte Flugkapitän Buntspecht sein Käppi vorsichtig noch zu Hoo hinab, sodass auch er aufsteigen konnte. Freudig watschelte er an der gutgelaunten Birne und dem etwas miesepetrig guckenden Mucks vorbei. Die Beine neben ihnen nach vorne gestreckt, setzte er sich hinter ihnen nieder. So nahm er die beiden Grünlinge behutsam in seine Mitte. Am strapazierfähigen Federflaum des Käppis konnten sich alle gut festhalten.
Nachdem die drei kleinen Freunde ihre Plätze eingenommen hatten, setzte Gechtur sein Käppi mit seinen illustren Fluggästen sorgfältig wieder auf. Nun brachte er sich auf dem knorrigen Ast in die richtige Startposition.
Birne, Mucks und auch Hoo waren, jeder auf seine Weise, sehr aufgeregt. Nie im Leben wäre ihnen jemals der Gedanke gekommen, dass sie einmal zu einer Flugreise eingeladen würden. Noch dazu so unendlich weit! Bis hinter den hoch aufragenden, bewaldeten Bergkamm, den Birne und Mucks nur bei günstigster Sicht durch den Blätterwald ihres Apfelbaumes zu Gesicht bekamen, sollte die Reise gehen. Höchst gespannt warteten sie auf den Abflug.
Mit einem dreimaligen „Kix-Kix-Kix!“ hieß Gechtur seine drei Fluggäste an Bord herzlich willkommen. Gewissenhaft wies er sie noch auf einige wichtige flugtechnische Details hin – dann konnte es losgehen!
„Eingecheckt und angekrallt, alles startklar, alles fein? Wir fliegen durch den Obstbaumhain. Danach hinauf zum Himmelszelt, seht euch nur um, wie's euch gefällt!“
Graziös breitete der Buntspecht seine schwarz-weiß gebänderten Schwingen aus. Mit seinen kräftigen Zehen schnellte Gechtur sich starterfahren vom dicken Ast ab. „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!“, riefen Birne und Mucks mit leicht wehmütigem Blick. Birne bekam vor lauter Freude richtig rosig warme Reisefieberbäckchen. Schnell machten sie noch ein Winke Winke ins vertraute, heimische Apfelbaumgeäst.
Auch Hoo verabschiedete sich vom knorrigen, alten Apfelbaum und der hervorragenden Apfelsafttankstelle. Fest in seinem Gedächtnis verankert und auf ewig dankbar, sprach er während des Wegfliegens spontan ein kleines, Stegreifgedicht:
„Lebe wohl, du guter Baum, du hast mich wohl ernähret.
Bleib stark, gesund, pass auf dich auf. Dein Leben, lang noch währet.“
Durchs duftende Apfelbaumdickicht und unter mehreren knorrigen, greisen Obstbäumen hindurch, die alle schon unter der schweren Last ihrer pflückreifen Früchte ächzten, flog Gechtur schnell hinaus ins Freie.
Es duftete nach Heu. Nachdem er über eine frisch gemähte Wiese und ein weites, erntereifes Maisfeld geflattert war, schwang er sich mit seinen ulkigen Passagieren mühelos hinauf in die Lüfte.
HEILKRÄFTIGES WASSER
„Hurra, wir fliegen, wir fliegen!“, rief Birne voller Entzücken. Überschwänglich, doch im Schutze ihres Regentropfenfreundes, breitete sie ihre zierlichen Ärmchen aus.
Auch auf Mucks war der Funke der Begeisterung nun übergesprungen. Mit Ausrufen wie „Cool!“, „Voll abgedreht!“, oder „Traumhaft!“, also Worten, die eher dem Begriffsschatz Birnes zuzuordnen gewesen wären, brachte er dies deutlich zum Ausdruck. Und siehe da, seine vorherige Bangigkeit war vollends verflogen.
Gechtur war ein überaus versierter Flieger. Er machte sich einen Spaß daraus, seinen drei Freunden die Kunst des Fliegens hautnah vorzuführen. Abwechselnd, zwischen kurzen Flügelschlagserien und kurzem Gleiten bei völlig geschlossenen Flügeln, düste er vorwärts. Damit Birne, Mucks und Hoo die Welt aus allen Himmelsrichtungen betrachten konnten, zog er manchmal einen weiten Kreis. Wellenförmig flog er rauf und runter. Sogar den Slalom- und Rückwärtsflug beherrschte er meisterhaft. Nur riskante Flugmanöver, wie den Looping, oder die waghalsige 90-Grad-Drehung, hatte er verantwortungsvoll und mit Rücksicht auf seine kostbare Fracht aus seinem Flugprogramm gestrichen. Schließlich wollte er nicht, dass seine kleinen Passagiere sich unwohl fühlten oder gar von seinem Käppi herabfielen. Seinen drei Mitreisenden einfach nur ein spaßiges, unvergessliches Flugerlebnis bieten – das wollte er!
Birne und Mucks waren völlig aus dem Häuschen. Für die beiden Blattläuse war es das Schönste und Tollste, was sie je erleben durften. Gechturs persönlicher Sightseeing Flug, den er den winzigen Flittertäglern und Regentropfen Hoo zum Geschenk machte, offerierte ihnen am laufenden Band neue, lohnende Ausblicke. Oft kamen sie aus dem Staunen und zeitweiligem „Aaaaahh!“ und „Ooooohh!“ Rufen gar nicht mehr heraus. Sogar der laue Gegenwind, der ihnen mal stärker, mal schwächer um die Näschen wehte, bereitete ihnen eher Spaß, als dass er sie in Unruhe versetzte. Zwischen den Beinen ihres ebenso begeisterten Wasserfreundes wiegten sie sich vertrauensvoll in Sicherheit. Gechturs einzigartiger Flugreiseservice war wahrlich eine ‚Hochzeitsreise‘ wert.
Als Hoo unter sich, idyllisch eingebettet in die ländliche Gegend, einen klaren, halb von Mischwald umsäumten Moorsee mit geschütztem Uferbereich erblickte, in dem sich das weite Blau des Himmels mit vereinzelt hingetupften Quellwölkchen spiegelte, erinnerte er sich zurück an frühere Zeiten im Wolkenreich.
„Hallo, Gechtur“, rief er in die leichte Brise. „Bist du damit einverstanden, wenn ich dir so zwischendurch, äh, einiges aus meinem Leben erzähle?“
„Ja, ja, Hoo, tu das nur! Ich spitze meine Horcher und bleib exakt auf Tour!“, antwortete Gechtur kurz und bündig.
So begann Hoo seinen bisherigen Lebensweg noch einmal Revue passieren zu lassen. Dabei pickte er die wichtigsten Ereignisse in geschickter Zusammenfassung heraus, um sie Flugkapitän Gechtur moderat zu Gehör zu bringen.
Freund Buntspecht flatterte zielbewusst weiter und weiter. Hoos prägnanten, kurzen Schilderungen lauschte er mit großem Interesse. Auch Birne und Mucks spitzten ihre Öhrchen. Für sie war es die Vergnügungsreise schlechthin. Unterhaltung pur!
DIE ZEIT VERGING, im wahrsten Sinne des Wortes, wie im Fluge. Schon bald hatte Gechtur das dicht besiedelte Tal mit Obstbaumhainen und Gemüsegärten, Wiesen, Feldern, Äckern, Laubwäldern, Alleen, dem breiten Fluss, kleinen Bade- und Naturseen, verstreuten Gehöften, einem Dutzend Dörfern, Sportstätten und einem dichten Verkehrs- und Wegenetz hinter sich gelassen.
Etwas außerhalb der größten Ansiedlung, auf einer wiesengrünen Anhöhe, stach ihnen eine stämmige und mächtig hoch gewachsene Sommerlinde mit ihren herzförmigen, spitz zulaufenden Blättern ins Auge. In ihrer üppigen Baumkrone hielten sich mehrere Tauben und Singvögel auf. Am Fuße ihrer weit verzweigten Wurzeln stand eine weiß getünchte, schindelgedeckte Kapelle. Modisch gekleidete Menschen gingen geruhsamen Schrittes durchs geöffnete Portal ein und aus. Nahebei, auf einem Spielplatz, vergnügten sich Kinder auf Rutschen, Schaukeln, Klettergestängen und in einem Sandkasten.