Die Liebe war unberechenbar, im Menschen schlummerte sie in ihrer gefährlichsten Ausprägung. In ihm lauerte zugleich der Tod für die einzig wahre Liebe – die Liebe zur Natur, ihrer Schöpfung und dem Alles.
„Schließ Aug und Mund für einen Tanz
und lausch dem Lied der Barden
du heilst mich nicht und bringst kein Glück
in meinen Seelengarten.“
In diesem Moment betrat Tauron Hagegard das Deck und Siralen verstummte. Der Admiral schloss die Tür der Steuermannskajüte und baute sich neben einem der Matrosen auf, wo er sich seinen Waffengürtel umschnallte, ein blaues Tuch über den Kopf band und prüfend über die Decks seines Schiffs blickte. Siralen wollte wegsehen, stellte aber kurz darauf fest, dass sie Tauron noch immer anstarrte.
„Dein Amt ist Kampf und Lust allein,
siehst im Moment die Ewigkeit.
Du bist schon so im Weltenrad
gefangen und befreit.
Der Zeitpunkt kommt, da man dich braucht.
Dann sei auch du bereit.
Und in dein Feuer, das verraucht,
wirf dich als letztes Scheit.“
Siralen blinzelte. Kopfschüttelnd beugte sie sich über ihre in Wildleder gebundenen Niederschriften und notierte:
Brigadier: Ragna MacGythrun
Regiment:
3 Brigadiersanwärter
5 Bataillone zu je 704 Mann
Bataillon:
1 Offizier
1 Unteroffizier
2 Unteroffiziersanwärter
30 Kompanien
Kompanien:
10 Schützenkompanien zu je 20 Mann
8 Aufklärerkompanien zu je 10 Mann
2 Kentaurenkompanien zu je 10 Mann
10 Infanteriekompanien zu je 40 Mann
Am Hauptdeck wurde es laut und die Kohle in Siralens Hand sprang vom Pergament zurück.
Chara. Sie war in Begleitung ihres tätowierten Anhangs aus der Luke zu den Mannschaftsunterkünften gestiegen und marschierte direkt auf sie zu. Aufmerksam studierte Siralen das blasse Gesicht, fand aber nichts darin, das ihr Aufschluss gegeben hätte.
„Hast du schon mitbekommen, dass Tauron ein Auge auf dich geworfen hat?“, bemerkte Chara, als würde sie ein missionsrelevantes Protokoll erörtern.
„Wieso denkst du, dass dieser Umstand von Interesse ist?“
Chara ließ ihre Hände in den Manteltaschen verschwinden. „Weil ich mir vorstellen kann, dass den Admiral ein kleines nächtliches Abenteuer entspannen könnte, was ihn zugänglicher machen würde, und das würde es mir wiederum erleichtern, mit ihm zusammenzuarbeiten.“
Unwillkürlich blickte Siralen zu Tauron, der noch immer am Hauptdeck stand und sie beobachtete.
„Was der Admiral denkt oder begehrt, ist für mich nicht von Relevanz“, erwiderte sie. „Und selbst wenn es so wäre, rate ich dir in aller Dringlichkeit, dich davon zu distanzieren, meine Interessen zu instrumentalisieren, um sie für deine Zwecke nutzbar zu machen.“
Chara verzog den Mund, was beinahe etwas Kumpelhaftes hatte.
„Wenn du willst. Allerdings kann man aus den persönlichen Interessen gelegentlich auch einen allgemeinen Nutzen ziehen. Es wäre fast nachlässig, das nicht zu tun. Das Ergebnis ist nämlich doppelt erfreulich.“ Ein schiefes Grinsen ließ ihren Eckzahn hervorblitzen. „Hab gehört, ein kleines Techtelmechtel kann sich bisweilen recht positiv auf den Organismus auswirken. Würde möglicherweise auch dir gut tun. Ihr Elfen seid doch der … der … na dieser … diesem Gefühlsding recht zugeneigt.“
Siralen hob ihre Braue. „Wovon sprichst du? Etwa von der Liebe?“ Sie unterdrückte ein Lächeln. „Sag, Chara, weshalb willst du dieses Wort nicht aussprechen?“
Das Grinsen aus Charas Gesicht verschwand, als hätte es der Wind mit sich fortgerissen.
„Wir sehen uns beim Abendessen.“
Ohne einen weiteren Kommentar drehte sie sich um und hielt im Gefolge der Dad Siki Na auf Tauron zu. Siralen sah ihr nach, bis ihr Blick erneut bei Tauron zum Stillstand kam.
Wie heilend kann der Liebe Licht schon sein, wenn doch so voll von Leid ihr Schatten ist?
„Stowokor“, hauchte Lucretia. Da hatte er sie schon in eine Umarmung gezogen und geküsst.
„Hab ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?“, flüsterte er in ihre Locken und Lucretias Magen ballte sich zu einer kleinen Faust zusammen.
„Das hast du“, versuchte sie es mit einer neutralen Antwort. Es war natürlich nicht das, was er hören wollte. Widerstrebend löste sie sich von ihm.
Stowokor ließ es nicht zu, dass sie ihm auswich, zog sie zum Bett und drückte sie behutsam auf die Matratze. Dann setzte er sich neben sie. „Worüber denkst du schon wieder nach, Lucretia?“
Lucretia stierte auf seine sauberen Nägel. „Ich muss mit dir über eine … eine nicht sehr angenehme Sache reden. Ich habe über die Botschaften aus giftiger Feder nachgedacht. Nach allem, was ich weiß, und nach allem, was mir Magus Primus Major Ahrsa Kasai bestätigt hat, fällt der Verdacht … er fällt …“ Sie musste schlucken, knetete betreten seine Finger. Irgendetwas verbot es ihr, Stowokor in die Augen zu sehen.
„Der Verdacht fällt, so leid es mir tut, auf dich, Stowokor.“
Die Hand in ihrer Hand versteifte sich.
„Bitte, versteh mich richtig. Ich bin sicher, dass nicht du der Botschaftenverfasser und damit ein Verräter bist. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dein Ruf als integeres Mitglied der Zauberkundigen auf dem Spiel steht.“
„Wie, bei allen Göttern, kommst du oder Kasai auf mich?!“, stieß Stowokor bestürzt hervor und entzog sich ihrem Griff.
„Du warst die ganze Zeit in meiner Nähe“, flüsterte sie. „Du wusstest um meine Niedergeschlagenheit nach unserer Rückkehr von Isahara, und dass ich kurz davor war, meine Sachen zu packen und Billus zu verlassen. Ich war seelisch aus dem Gleichgewicht, und gerade das scheint dem Verfasser ein Motiv gewesen zu sein, mich als Ziel auszuwählen. Du hattest Gelegenheit, diese Nachricht zu schreiben und zu hinterlassen und nicht zuletzt – du hast gewusst, dass sie von einem Schattenboten übermittelt wurde. Warum hast du mir diese wertvolle Information vorenthalten?“
Der Vorwurf war da und mit der adäquaten Vehemenz über ihre Lippen gekommen. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Ich wollte dich schützen“, sagte Stowokor sofort.
„Wovor denn? Du hast mich stattdessen in Gefahr gebracht.“
„Niemals! Ich war doch immer hier, hab doch jeden Tag darauf geachtet, dass du dich nicht in Gefahr bringst. Ich hab dir diese Tatsache verschwiegen, weil ich nicht wollte, dass du dich ängstigst. Immerhin handelt es sich bei dem Überbringer um einen Dämon – einen Boten der Unterwelt, den größtenteils Leute nutzen, die zur Chaosseite gehören.“ Er holte tief Luft. „Aber Lucretia, Liebes, ich habe dich keinen Herzschlag aus den Augen gelassen. Es hätte dir nichts passieren können.“
Lucretia suchte in seinem runden Gesicht nach einem Hinweis, der jeglichen Verdacht von ihm wies, und fand nichts als tiefe Zuneigung darin. Es tat weh. Doch seine Gefühle sprachen ihn noch lange nicht frei. Stowokor hatte mit seiner Verschwiegenheit Verdacht erregt und die Zauberkundigen hatten nun, da Kasai davon wusste, ein Recht darauf, diesem Verdacht auf den Grund zu gehen. Mehr noch, es war Lucretias Pflicht als Sprecherin