„Völlig korrekt“, gab ihr der Magus recht. „Allerdings habe ich Euch eine Sache noch nicht mitgeteilt, und bevor Ihr diesen Schritt in Erwägung zieht, solltet Ihr alle Details kennen, nicht wahr?“
Er schlug seine schlanken Beine übereinander und faltete seine begnadeten Hände über seinem Knie. „Die Schattenboten, von denen ich Euch berichtet habe, werte Magus Secundus, werden unter anderem auch von dem einen oder anderen Assassinen genutzt, um in dringenden Fällen rasch erforderliche Instruktionen oder Morddrohungen zu übermitteln.“
„Sagtet Ihr nicht, dass für die Nutzung eines Schattenboten-Dämons Magie vonnöten ist und nur ein Zauberkundiger einen solchen Dämon rufen kann, der die Magie der Dämonenbeschwörung zu seinem Spezialgebiet gemacht hat?“
Ahrsa neigte seinen Kopf und der Blick aus seinen schönen Augen zielte von unten in ihr Gesicht. „Auch das ist völlig korrekt, Frau L’Incarto. Aber Assassinen können sich magischer Artefakte bedienen, und es ist nun mal eine Tatsache, dass man eine Beschwörungsformel in ein solches Artefakt integrieren kann, was Euch ja bekannt sein dürfte.“
Es war ihr in der Tat bekannt. Was sollte sie nun mit dieser Information machen? Ungewollt schlichen ihre Gedanken zu Chara.
Nein. Ausgeschlossen. Chara konnte nichts mit diesen Nachrichten zu tun haben. Sie war Al’Jebal blind ergeben. Sie würde nichts tun, was dieser Mission schaden könnte. Andererseits waren Chara und sie vermutlich sehr unterschiedlicher Meinung, was diesem Auftrag schadete und was ihm nutzte. Ihr Magen verkrampfte sich.
Hatte tatsächlich Stowokor etwas damit zu tun? Er hätte also wissen müssen, dass ein Schattenbote im Spiel gewesen war. Warum hatte er es ihr nicht gesagt? Andererseits hatte er in Billus darauf bestanden, Al’Jebal von der Nachricht aus unbekannter Feder zu unterrichten. Wäre er der Verfasser, hätte er dies wohl kaum in Erwägung gezogen. Oder doch? Vielleicht hatte er ja gar nicht mit Al’Jebal gesprochen und die Warnung, die Al’Jebal ihr gegenüber angeblich zum Ausdruck gebracht hatte, war eine Lüge Stowokors, um den Verdacht von sich zu lenken.
Allmählich bildete sich ein Knoten in ihrem Gehirn. Musste sie Stowokor einer Untersuchung unterziehen? War es nicht ihre von den Mächten gegebene Pflicht als Kommandantin dieser Mission?
Magus Primus Major Ahrsa Kasai beugte sich nach vorne und sein von purem Pragmatismus geprägtes Gesicht wurde beschwörend. „Frau L’Incarto, wie ich Euch bereits sagte, kann eine Botschaft von Schattenhand nur über eine Distanz von etwa neunzig VALM geschickt werden. Der Verfasser der Nachrichten befindet sich demnach in diesem Flottenverband.“ Er hob sein Kinn und seine pfeilgerade Nase richtete sich fast anklagend auf Lucretia. „Werte Kollegin, wir müssen davon ausgehen, dass es in unseren Reihen einen Verräter gibt.“
Ein Schatten über der Meerjungfrau
Habt ihr Angst?
Sicher habt ihr Angst. Wir alle haben Angst. Es ist die Angst vor dem Fremden, die Angst vor dem, was wir nicht kennen, und auch nicht kennen lernen wollen. Es ist die Angst vor dem Schatten, die Angst vor dem Unbekannten, das dort draußen lauert und jederzeit zuschlagen könnte.
(LC, 1. Manifest, 2. Trideade im Drachenmond, 348 nGF)
Siralen saß mit einem Stück zugespitzter Kohle und überkreuzten Beinen auf einem zusammengerollten Tau am Vordeck und beobachtete die Mannschaft bei ihrer täglichen Schufterei. Darcean hatte sich während der vergangenen Tage in seiner Kajüte auf der Meerjungfrau eingerichtet und gab sein Bestes, sich mit der neuen Umgebung anzufreunden.
Nachdenklich ließ Siralen ihren Blick über die Decks des Güldenmaid-Seglers wandern. Die Matrosen schrubbten die Planken, schleppten Eimer mit Wasser durch die Gegend, schöpften Leck-, Schwitz- und Schmutzwasser aus der Bilge ab, hämmerten Nägel in lose Planken, befestigten Schoten oder hissten Segel …
Nachdem offenbar geworden war, dass die Kommandoschiffe von Charas Assassinen überwacht wurden, hatte Tauron Hagegard unzählige erregte Stimmen innerhalb der Seeleute zur Ruhe ermahnen müssen. Es gab kaum einen unter den Kapitänen, der sich nicht darüber empört hatte und damit drohte, die Befehle des Kommandos zu verweigern, sofern diese Maßnahme nicht eingestellt würde. Der Admiral war gezwungen gewesen, Chara zur Rede zu stellen. Siralen hatte eine natürliche Abneigung gegen jede Form der Misshelligkeit, und so hatte sie gar keine andere Wahl gehabt, als den Disput zu beobachten.
„Wie soll ich für die Sicherheit sorgen, wenn ich deinen Leuten permanent ums Maul gehen muss?“, hatte Chara gewettert. „Wir haben hier ein Verräter-Problem. Ist dir klar, was das bedeutet?“
Tauron hatte in einer Art und Weise gekontert, dass Siralen unvermittelt ein Licht aufgegangen war: Chara und Tauron hatten eindeutig eine Gemeinsamkeit. Beide waren Hitzköpfe, und selbst wenn Chara um den heißen brodelnden Kern in ihrem Inneren hart wie ein Fels war – ganz im Gegensatz zum Admiral, der von innen nach außen flammende Leidenschaft versprühte –, so war überdeutlich, dass beide dazu neigten, unkontrolliert hochzugehen. Und das war beileibe nicht das einzige Problem. Chara wie auch Tauron unterwarfen sich nicht. Sie unterwarfen sich niemandem und hörten nur auf sich selbst, oder, wie im Falle Charas, auf ihren Herrn. Das machte jegliche Kompromissfindung zu einem Tanz auf brüchigem Eis.
Dem Weltgeist sei Dank hatte Chara schließlich eingelenkt. Sie hatte auch keine Wahl gehabt. Das Wohlwollen, aber mehr noch der Gehorsam der Seefahrer waren unabdingbar. Mittlerweile stand außer Frage, dass dieses Kommando ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Vermittlungstalent benötigte, und Chara hatte weder das eine noch das andere. Also war es an Siralen, zwischen der funkensprühenden Assassinin und den anderen Mitgliedern der Kommandospitze als Brückenbauerin zu fungieren. Sie mochte eine Elfe sein, und damit war sie wohl nicht die erste Wahl, um zwischen Menschen zu vermitteln, aber dank ihrer Großmutter war sie gut darin unterwiesen worden, diplomatisch vorzugehen und ihre Worte wohlbedacht zu wählen. Auch wenn es Siralen nicht behagte, einen allzu engen Kontakt mit den Menschen zu pflegen. Zu vieles konnte dabei missverstanden werden, zu viel der Menschlichkeit auf ihr eigenes Wesen abfärben. Wer wusste besser als sie, wie leicht es geschehen konnte, sich vom eigenen Volk und seinem Wohl zu distanzieren. Ihr Vater hatte es ihr vorgemacht.
Mittlerweile war sie an einen Punkt geraten, an dem ihr die Menschen auf diesem Schiff gar nicht mehr so fremd waren, und hin und wieder ertappte sie sich sogar bei dem Gedanken, dass das Menschengeschlecht mitunter auch ganz erfreuliche Eigenschaften aufwies. Menschen mochten etwas naiv sein, sie mochten Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen gedankenlos hinfort lachen, um dem Augenblick zu huldigen und die Sorglosigkeit zum erstrebenswerten Zustand zu erheben, aber sie lebten. Sie lebten auf eine Art und Weise, wie ihr eigenes Volk wohl nie leben würde, weil es viel zu skrupulös durch diese Welt ging. Dieser Skrupel war wichtig, nein, notwendig. Aber hin und wieder verspürte Siralen den Wunsch, selbst ein wenig mehr zu lachen und etwas weniger vorauszudenken.
Seit über einer Trideade bildete sie mit den Menschen nun eine Gemeinschaft auf engstem Raum. Die Meerjungfrau war ihrer aller Zuhause geworden. Die Kajüte, die man Siralen zugewiesen hatte, war klein und ohne Ausblick. Eine Koje mit einem Stockbett gestaltete die eine, ihre mitgebrachten Truhen die andere Hälfte. Der Tür gegenüber befanden sich ein in den Boden genagelter Tisch und ein Hocker. Sie hatte sich für das obere der beiden Betten entschieden. Vielleicht würde sie eine Schlafstatt in „luftigen Höhen“ für den Verlust der Wälder Albions im Austausch mit den beengenden Dimensionen eines Schiffs entschädigen. Und auch wenn Siralen die Wälder Albions vermisste und jeden freien Moment an Deck verbrachte, um sich vom Wind sanft das Haar streicheln zu lassen, begann sie, der See etwas abzugewinnen. Die Wasser des Ozeans waren ungezähmt, wild und irgendwo tief in Siralen verbarg sich eine heimliche Sehnsucht nach dieser Wildheit – nach einem ungezügelten, unvorhergesehenen …
Verstohlen beobachtete sie die raubeinigen Seefahrer, die teilweise nur ihre Beinkleider am Leib trugen, schwitzend ihren Arbeiten nachgingen und dabei vor sich hin pfiffen.
… dem Unaussprechlichen!