Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto. J. H. Praßl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. H. Praßl
Издательство: Bookwire
Серия: Chroniken von Chaos und Ordnung
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862826186
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sicher, ob es tatsächlich so einfach war.

      Als sie die Tür zu ihrer Kajüte öffnete, spähte sie zu Lucretias Quartier. Es war, wie erwartet, verschlossen. Die Akademiemagierin sah wohl keinen Grund, ihr Schlupfloch zu verlassen und sich den Anforderungen des Kommandos zu stellen. Chara ließ Og und Nok draußen stehen, verschloss die Kajüte hinter sich und warf sich auf ihr Bett. Wenn Lucretia wenigstens ein paar von ihren Plunderteilchen backen würde …

      Es war schon dunkel. Lucretia saß auf ihrem Bett, den Kopf an Stowokors Schulter gelehnt, ihre kleine Hand in seiner großen. Durch die Wand zu Siralens Kajüte drang gedämpfte Flötenmusik. Lucretia mochte den Klang von Flöten. Er hatte etwas Zartes, Verspieltes. Doch heute waren die verletzlichen Klänge von Siralens Flöte wie eine vom Schicksal auserwählte Melodie zur Untermalung ihrer akuten Sorgen. Was, wenn sie erneut versagte, wenn das Übel nicht abzuwenden war, das sich vor einigen Tagen ein weiteres Mal vor ihr entrollt hatte?

      Ihr könnt alles haben, was Ihr wollt, stand auf dem Pergament, das sich nun in Ahrsa Kasais Besitz befand. Wer auch immer diese Botschaften verfasste, er schien nicht mit dem Gedanken zu spielen, damit aufzuhören. Sie hätte nicht antworten sollen. Es war ein Fehler gewesen.

      Seit Beginn der Reise fühlte sich Lucretia seltsam schlapp. Alle ihre guten Vorsätze schienen sich allmählich zu zersetzen, wie alte Schriften in verstaubten Bibliotheken. Bleiern lastete Müdigkeit auf ihr und jedes Mal, wenn sie zur Tat schreiten wollte, plagten sie sonderbare Ängste. Es machte ihr Angst, anderen in die Augen zu sehen, es machte ihr Angst, sich dem Urteil ihrer Kollegen auszusetzen, es machte ihr Angst, Entscheidungen zu treffen. Im Grunde machte ihr alles Angst.

      „Du hast doch Al’Jebal über die erste Nachricht in Kenntnis gesetzt, nicht, mein Lieber?“, fragte sie Stowokor.

      Stowokor sah aus, als wäre er in Gedanken gerade ganz woanders. „Was meinst du?“

      „Die Botschaft, die ich in meinem Haus in Billus gefunden habe. Die, die so mir nichts, dir nichts auf meinem Nachttisch aufgetaucht ist.“

      Er nickte, was sein Bäuchlein in ein zaghaftes Wippen versetzte. „Ich hab dir doch Al’Jebals Warnung mitgeteilt.“

      „Richtig.“ Das hatte er. Da war es aber schon zu spät gewesen. Da hatte sie längst geantwortet. Und im Augenblick hatte sie gute Lust, gleich eine neue Botschaft zu verfassen. Immerhin bot ihr hier jemand seine Hilfe an. Andererseits … Es war schlicht eine unverschämte Dreistigkeit, ihr irgendwelche Versprechungen zu machen, ohne diese zu konkretisieren oder auch nur die eigene Identität preiszugeben. Was bildete sich dieser Schreiber eigentlich ein?

      Lucretia drückte ihr Gesicht in Stowokors Halsbeuge und schmiegte sich an seinen weichen Körper, was er zum Anlass nahm, ihr seinen schweren Arm über die Schulter zu legen.

      „Ich mache mir große Sorgen um dich“, brummte er und küsste sie auf die Stirn. „Du bist in letzter Zeit so introvertiert. Dein hohes Maß an Verantwortung setzt dir zu, nicht?“

      „Natürlich“, brach es aus ihr heraus und Siralens Flöte in der Nebenkabine stieß ein singendes Seufzen aus.

      „Und ich bezweifle mit jedem Funken meines Verstandes, dass Chara dieser Aufgabe besser gewachsen ist als ich. Magus Primus Kasai ist übrigens derselben Meinung. Er sagt, ich solle mir gut überlegen, was genau ich Chara mitteile und was ich lieber für mich behalte. Ich verstehe auch, weshalb er so denkt.“

      Stowokor sah sie erwartungsvoll an.

      „Nicht nur, dass Chara von der Pike auf gelernt hat, ausschließlich ihrem Meister zu dienen – und Al’Jebal ist nun mal nicht die Allianz – und sich diesem restlos zu unterwerfen, wodurch sie kaum fähig sein dürfte, irgendjemanden anzuführen“, ließ Lucretia ihren Sorgen freien Lauf. „Sie ist auch denkbar ungeeignet für ein Kommando, das auf der Grundlage demokratischer Entscheidungsfindungen handelt. Wenn überhaupt, funktioniert sie nur in klaren hierarchischen Gefügen, wie es im Kriegszustand der Fall ist. Aber wir sind hier nicht in Erainn, sondern auf einer Expedition. Als Flottenoberkommandantin hat sie auf jeden Fall viel zu viel Macht. Einen Großteil der Expeditionsmitglieder machen die Seefahrer aus, um genau zu sein, rund drei Viertel sind Piraten. Und die unterstehen alle Chara. Dazu kommen ihre fünfhundert Assassinen und ebenso viele Gelehrte, die allerdings, den Mächten sei Dank, keinerlei Kampfkraft besitzen. Der Rest der Besatzungen ist im Vergleich verschwindend.“ Sie stieß ein vernehmliches Seufzen aus und die Flötenmelodie schlug in eine zaghafte Melancholie um. „Umso wichtiger ist es, hier ein starkes Gegengewicht zu schaffen“, schmetterte sie Siralens Flöte entgegen. Dieses zaudernde Lied war aber auch eine Beleidigung für die Ernsthaftigkeit der Lage. „Wir Zauberkundigen sind da gewiss die bestmögliche Option. Und auch wenn ich es nur ungern zugebe, auch die Priesterschaft.“

      Seufzend zog sie ihren Kopf aus Stowokors Halsbeuge. „Ahrsa sagt, es wäre sehr wichtig, wenn sich die Zauberkundigen mit den Priestern einig würden … sich sozusagen mit ihnen … verbrüdern.“

      „Da hat er möglicherweise recht.“ Stowokor sprach mit ihr, als würde er sie einfach nur ruhig stellen wollen. War ihm denn das alles nicht wichtig?

      Gut, dass sie einen Berater wie Magus Primus Kasai hatte. Ahrsa war brillant. Nur seinetwegen wusste Lucretia, wie diese Botschaften überhaupt verschickt wurden. Nur seinetwegen hatte sich ihr Verdacht erhärtet, dass der Verfasser ein Chaosanhänger war. Wer war er?

      „Das Problem ist Telos Malakin“, kam sie auf die Priester zurück. „Er ist auf Charas Seite. War er schon immer. Leider ist er auch der Sprecher der in der Flotte befindlichen Priesterschaften.“

      „Was sagt Magus Primus Kasai dazu?“

      Lucretia ließ die Hände in den Schoß fallen. „Er verweist auf den Oberhohepriester Laurin MacArgyll. Er meint, er hätte viel Macht und die Priester würden auf ihn hören – auch die der anderen Priesterschaften. Nur, solange Telos das letzte Wort hat, hat MacArgyll wenig zu sagen.“

      Ein schrilles Quietschen ließ Lucretia zusammenzucken. Siralen hatte sich gerade empfindlich im Ton vergriffen. Stowokor schien sich nicht daran zu stören. Er starrte auf den Boden zwischen seinen Schuhen.

      Ahrsa hatte bei seinen Untersuchungen des Pergaments ans Licht gebracht, dass die Botschaften von einem Schattenboten übermittelt worden waren. Lucretia hatte keinen Schimmer gehabt, was ein Schattenbote überhaupt war, aber er hatte es ihr in einfachen Worten erklärt. Doch nicht die Erklärung hatte ihr einen kalten Schauer über den Rücken gejagt, sondern das, was er danach gesagt hatte:

      „Stowokor Olschewski ist ein Informationsmagier, einer der fähigsten, die mir bekannt sind. Er hätte erkennen müssen, dass ein Schattenbote hinter dem Auftauchen dieser Nachrichten steckt.“

      Tatsache war, Stowokor hatte nichts dergleichen gesagt. Und jetzt war da dieser furchtbare Verdacht, es könnte sich bei ihrem so geschätzten Gefährten um einen Mittäter handeln. Oder womöglich um den Schreiber selbst. Aber nein. Das war einfach nicht möglich.

      Ein höflich verhaltenes Klopfen erklang.

      „Ja?“

      „Magus Primus Major Ahrsa Kasai. Ist es mir gestattet, einzutreten, werte Frau L’Incarto?“

      Die Flöte in Siralens Kajüte verstummte, als würde sie sich schämen weiterzuspielen – nun, da sie so viele Zuhörer hatte.

      Stowokor stemmte sich, zwei handtellergroße und eine fassgroße Delle in der Matratze hinterlassend, hoch, schob den Gürtel unter seinem Bauch zurecht und brummte: „Ich lasse euch beide am besten allein.“

      Lucretia nickte und Stowokor öffnete die Tür. Nachdem Ahrsa Kasai eingetreten war und die Kajüte verschlossen hatte, bot Lucretia ihm an, Platz zu nehmen. Zeit, den Magus Primus zu Rate zu ziehen. Ahrsa hatte Fähigkeiten, von denen sie nur träumen konnte.

      „Ich wollte Euch darüber informieren, dass die Interne Sicherheit dazu übergeht, die Kommandoschiffe zu überwachen, da es angeblich einen Verräter in der Flotte gibt“, erklärte er gedehnt. „Das zumindest ist Frau Pasiphae-Opoulos’ Meinung. Eine Überwachung wird