Chara nickte. Sie hatte bis jetzt zu viel um die Ohren gehabt – mit den Gelehrten sprechen, Beschattungen veranlassen und dann wieder einstellen, mit Siralen an den Berichten für die Vizeadmiräle arbeiten, die Flottenliste aktuell halten …
Es wurde still in der Kajüte. Dann wurde es warm über ihrer Brust. Verwirrt tastete sie nach ihrem Hemd.
Al’Jebals Blut … Die Flüssigkeit in der kleinen Phiole hatte sich spürbar erwärmt.
Sie blickte auf und sah ihm in die Augen.
„Du musst vorsichtig sein, Chara. Das Ende der Welt ist nicht mehr weit. Ich weiß nicht, wie lange wir danach noch die Verbindung halten können.“
Ein unwirklicher Schleier schob sich vor ihr Augenlicht. Irgendetwas in ihr regte sich, schnappte nach Luft, verhalf sich zu einer Stimme: „Hinter der nahen Grenze wartet die Fremde. Dort bin ich meinen Wurzeln entrissen. Dort bin ich leer und ohne Weisung … Dort ist der Meister nicht mehr als ein schwaches Pulsieren über meinem Herzen.“ Sie griff nach der Phiole zwischen ihren Brüsten. Etwas tastete nach ihren Gedanken und begann, damit zu spielen. Etwas, das fremd war und doch mehr Chara war, als irgendetwas sonst. Die Worte flossen ohne Halt aus ihr heraus – wie ein breiter Strom, dessen Quelle tief in ihr verborgen lag.
„Doch alles, was ich in der Fremde tun werde, ist sein. Denn er hat mich geschaffen und zu ihm werde ich zurückkehren. Aber wenn ich wiederkehre, und der Meister ist tot, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Welt in den Untergang zu führen. Denn wenn man mich berührt an den Wunden meiner Torheit, dann öffne ich die Tür zu einer Welt aus Schmerz und Angst.“
Ein Beben durchzuckte ihren Körper. Der Schleier vor ihren Augen löste sich auf. Über Al’Jebals Lippen glitt ein Lächeln.
„Ich werde hier sein.“
Das Licht um die Kugel erlosch und Chara sank erschöpft gegen den Bettrahmen.
„Eh, Chara?“, vernahm sie vage Kerrims Stimme. Sie hatte ganz vergessen, dass sie nicht allein in ihrer Kajüte war.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und hob das Artefakt auf.
„Ja.“
„Ich schätże, es wird sain besser, wenn ich dich lasse allain jetżt.“ Er ließ die Kugel samt Gestell unter seinem Umhang verschwinden und ging zur Tür.
„Ich bin froh, dass du hier bist, Kerrim.“
„Ich waiß.“
„Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Chara.“
Die Tür fiel klickend ins Schloss und Chara starrte an die Wand über dem Türrahmen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie ihr entgegenkippen. Alle Wände schienen plötzlich nach innen zu kippen.
Kurz entschlossen schüttelte sie die Betäubung ab, stand auf, griff sich eines ihrer noch unbeschriebenen kleinen, schwarzen Bücher und setzte sich an den Tisch. Dort zog sie Feder und Tinte aus einer Gürteltasche und schickte ihre Gedanken auf Reisen.
Wann hatte alles begonnen? Wo hatte sie jene Abzweigung genommen, die sie zu Al’Jebal geführt hatte?
Eine Wüste schälte sich aus ihren Erinnerungen. Eine Gruppe Reisender auf Pferden. Ein Kriegspriester, ein vallandischer Barbar und ein Waldläufer aus Alba.
Chara senkte die Federspitze auf die erste Seite und schrieb: Thorn Gandir
Dann zog sie ein Stück Kohle aus ihrer Gürteltasche und begann zu zeichnen. Schwarze scharfe Linien und weiche Schatten füllten das Pergament. Während Thorns Silhouette langsam Gestalt annahm, zogen die Straßen, Gassen und prunkvollen Bauten der Stadt Valianor vor ihrem inneren Auge vorüber. Und dort, in einer Taverne, die für ihre Fischsuppe berühmt war, fand sie den Helden des Valianischen Imperiums. Er hatte sein langes braunes Haar mit einem Lederband im Nacken zusammengefasst und unterhielt sich leise mit einem Fremden. Plötzlich sah er auf, und ihre Blicke kreuzten sich.
Aonadag, 1. Trideade im Trollmond/347 nGF
Mein Name ist … Nein, das wäre schon zu viel gesagt.
Es ist unerheblich, wie ich heiße, unerheblich, wie man mich nennt. Denn noch bin ich ein Niemand, noch spielt es keine Rolle, wer ich bin oder was ich zu sagen habe.
Es ist zu früh für mich, offen zu sprechen; zu früh, die Dinge beim Namen zu nennen, denn im Schweigen offenbart sich vieles, das sich im Wort nie enthüllen wird. Im Schweigen offenbart sich eine Ahnung davon, dass die Welt größer ist, als wir zu begreifen imstande sind – dort zeigt sich unsere Sehnsucht, über die Grenzen des Verstandes hinauszugehen.
In der Stille liegt die Kraft der Bewegung, der Wunsch nach Größerem, der Trieb, etwas zu verändern. Und wir müssen etwas verändern, wir müssen uns bewegen.
Soviel zu dem, was ich denke.
Wer ich bin? Nun, das wird sich früher oder später zeigen. Heute jedenfalls nennt man mich Lebensretter, Friedensstifter, Lichtbringer, Schlüssel zu Caeir Aun Isahara … und, (denn es gibt immer auch eine zweite Seite der Medaille), Todesverächter, Chaosbringer, Gottesfeind, Zerstörer von Cair Urd …
Die meisten nennen mich aber einfach nur Das Sandkorn.
Ich denke, fürs Erste habe ich genug darüber verloren, wer oder was ich bin, selbst wenn es nichts über mich aussagt, und es wird auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich mir darüber im Klaren bin, ob ich innerhalb der Pläne der mächtigsten unserer Wesen eine bestimmte Rolle spiele, von deren wahrer Natur ich selbst heute, acht Jahre nach meiner eigentlichen „Geburt“, nur einen unmaßgeblichen Teil kenne.
Ich bin im Grunde noch gar nicht da. Denn zu jener Zeit, da alles begann, wusste noch nicht einmal ich, dass ich im Begriff war, in die tückischen Fahrwasser der beiden Urmächte zu geraten, die unsere Welt zum Leben erweckten, oder dass ich irgendwann einmal zum Narren der herrschenden Fraktionen Amaleas werden würde.
Alles, was ich verstand, war, dass ich einen Befehl zu befolgen hatte. Und die Verweigerung eines Befehls ist für jemanden wie mich nicht nur tödlich, sondern ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest verhielt es sich damals so, und auch noch Jahre später. Genaugenommen bin ich erst jetzt dabei, einen Befehl zu missachten und einen Weg zu beschreiten, der weit von alldem wegführt, was ich irgendwann einmal war.
Doch das Jetzt, von dem ich spreche, betrifft die Zeit nach der einzigartigen Begegnung, die sich am Ende des Anfangs zugetragen hat, am Ende jener Vorgeschichte, die ich hier zu klären gedenke.
Ich werde mich heute damit begnügen müssen, zu verstehen, wie alles begann und wie es zu jener Begegnung kommen konnte, die mich, meine Begleiter, ja, die ganze verdammte Welt in ein neues, ein seltsames und verstörendes Licht rückte.
Manches von dem, das mir auf meinem Weg begegnete, nahm ich für bare Münze, anderes kam mir zu Recht abwegig vor, wieder anderes erweckte meinen Zorn oder kostete mich nur ein müdes Lächeln. Aber eines habe ich am Ende begriffen:
Ich bin mehr, als ich sein sollte.
Der Tod ist dein Begleiter
Darcean Dahoccu stand aufrecht in der Mitte seiner Kajüte, zu seinem Bedauern eine kleine Kammer ohne jeden Ausblick, wie es bei allen Kabinen, abgesehen von der des Kapitäns der Fall war. Doch mittlerweile hatte er sich an das schummrige Licht der Öllampe, an die karge Einrichtung und die beengenden Räumlichkeiten gewöhnt. Nicht gewöhnt hatte er sich an die Abwesenheit seiner kleinen Schwester. Sein Leben lang war er für sie da gewesen, war für ihre Sicherheit, ihre Erziehung, ihre Bildung verantwortlich gewesen – seit dem Tod ihrer Eltern, als das Chaos über Moravod hereingebrochen war und lange bevor sie in den neu gegründeten Elfenstaat Albion gereist waren. Doch als er schließlich von Albion nach Aschran aufbrach, um sich dieser Mission anzuschließen, hatte er Sedhorad zurücklassen müssen. Der Weltgeist hatte ihre beiden Leben voneinander getrennt, und Darcean fügte sich in diese