Chara zog die Hand vom Türgriff und blickte an dem Mann vorbei in die Mannschaftsunterkünfte. Kerrim war im Augenblick mit einem seiner Leute in der Flotte unterwegs. Aber Simi musste an Bord sein. „Worum geht es?“
Als Antwort bekam sie ein Schulterzucken und einen unbehaglichen Blick. „Weiß nicht genau. Aber die Stimmung an Deck ist ziemlich angespannt. Es geht um Stowokor Olschewski. Wenn ich’s richtig verstanden hab, will Lucretia ihn festnehmen lassen.“
„Und Olschewski wehrt sich.“
„So in etwa.“
Chara nickte. „Gehen wir.“
Während Chara dem Matrosen durch den Korridor zu den Mannschaftsunterkünften folgte, dachte sie an ihr letztes Gespräch mit Lucretia. Die Magierin hatte ihr von den Botschaften aus unbekannter Feder erzählt. Sogar, dass sie befürchtete, Stowokor wäre in die Sache verwickelt. Dabei war sie nicht zu betonen müde geworden, dass die Nachrichten von Schattenhand übermittelt worden waren. Und selbstredend, dass Schattenboten gerne mit den Assassinen in Verbindung gebracht wurden. Der eigentliche Hintergrund von Lucretias Redseligkeit war also die Hoffnung, ein Assassine wäre der eigentlich Verantwortliche und Chara könnte die Sache vielleicht irgendwie aufklären. Dann wäre Olschewski aus dem Schneider gewesen.
Lucretia hatte sich also entschieden, ihren Liebhaber festnehmen zu lassen. Damit bewies sie Initiative. Und eine gewisse Härte, wenn man bedachte, wie nahe sich die beiden allem Anschein nach standen. Gnadenloses Voranschreiten statt ängstlicher Stagnation … Die Magierin hatte offenbar ein Heilmittel gegen das lähmende Gift der Lethargie gefunden, die sie während der vergangenen Trideade gefangen gehalten hatte. Die Kommandantin der Zauberkundigen schritt erneut zur Tat. Und Olschewski war ihr Auftrag. Mit Verlaub, das war exakt jener Gang über eine schmale Brücke, den Chara sich bis jetzt erspart hatte.
„Simi, Tyrsis, mitkommen!“, rief sie, als sie vier der fünf Hatschmaschin in ihren Hängematten dösend vorfand. Die beiden waren so schnell auf den Beinen, als hätte Al’Jebal sie persönlich wachgeküsst. „Sieht so aus, als müssten wir jemandem seine Rechte vorlesen.“
Die Oberdecks der Meerjungfrau hatten sich drastisch verändert. Das Hauptdeck hatte sich in eine Arena verwandelt, und die kleineren Decks bug- und heckseitig in Tribünen. Dicht gedrängt standen die Matrosen auf dem Achterdeck und Vordeck und verfolgten gebannt, was sich um den Hauptmast im Zentrum der Meerjungfrau abspielte. Nur fand dort kein Kampf statt, sondern eine offensichtliche Tragödie.
Der Himmel war wolkenverhangen und eine steife Brise trieb Tauron die Tränen in die Augen. Er hatte sich am Poopdeck aufgebaut und beobachtete wachsamen Blicks, was auf seinem Schiff vorging. Sein Bart juckte, was er meistens tat, wenn er irgendwie angespannt war. Jetzt gerade war er ziemlich angespannt – immerhin sah es aus, als würde es demnächst eine Festnahme auf seinem Schiff geben.
Zeit für eine Rasur.
Er erhaschte einen Blick auf Siralen, die nahe dem Großmast stand, ihre blauen Augen unruhig die Reling fixierend, an welcher sich der etwas untersetzte Magier namens Stowokor Olschewski befand und wie in Trance auf das Meer hinausblickte. Neben ihm auf den Planken standen eine kleine Truhe und ein Rucksack.
Fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, ermahnte sich Tauron. Nicht, solange sich die werten Zauberkundigen an die Regeln an Bord meines Schiffes halten. Im Augenblick sah es ganz danach aus.
Die vier eben erst an Bord gekommenen Magier, darunter die Kleine, die zu Telos Malakin gehörte, waren umgehend in der Offiziersmesse abgetaucht und warteten dort darauf, ihren Dienst an der Sache zu tun. Soweit Tauron informiert war, waren sie hier, um Olschewski einer Befragung zu unterziehen, weil er sich des Verdachts auf Verrat schuldig gemacht hatte. Damit hatte Olschewski offenbar ein Problem, denn er hatte kurzerhand seine Sachen gepackt und nach einem Drachenboot verlangt. Das war natürlich gewesen, bevor Tauron gewusst hatte, worum genau es ging. Jetzt wartete Stowokor Olschewski, dass sein Drache aufkreuzte, was ihm wahrscheinlich nicht einmal dann weiterhelfen würde, wenn Tauron ihm gestattete, von Bord zu gehen. Denn gerade betraten Chara und zwei Assassinen das Hauptdeck, und die waren ganz sicher nicht hier, um ihn freundlich zu verabschieden. Lucretia hatte nach ihnen schicken lassen.
Die Kommandantin der Zauberkundigen stand neben Tauron auf dem Poopdeck, hatte das Kinn zu unwiderrufbarer Schicksalsverkündung erhoben und befahl Chara und den Hatschmaschin mit fester Stimme: „Nehmt ihn fest! Danach bringt ihr ihn in die Brig!“
Gleich darauf zog sie sich zusammen wie ein ausgepresster Schwamm. Ihre Zähne schienen sich ineinander verkeilt zu haben, ihre Kiefer mahlten. Die Narbe in ihrem Gesicht hatte sich weiß gefärbt. Also hatte sie ein Problem damit, ihren Gefährten auszuliefern. Es hätte selbst ihm, Tauron, ein Zwicken in der Bauchgegend verursacht, wenn es ihr egal gewesen wäre. Er hatte mit der Liebe nicht viel am Hut, wusste aber, was Solidarität bedeutete, und dass es Zeiten gab, in denen die Zusammengehörigkeit über allen anderen Dingen stehen musste. Nur so konnte man einen verrückten Haufen wie Piraten zusammenhalten, nur so konnten Freidenker an einem Strang ziehen, nur so war das Leben überhaupt lebenswert. Manchmal musste man dieses Zusammenhaltes wegen Regeln brechen. Wer wusste das besser als er? Klar brach er das Gesetz. Er war Pirat.
Lucretia L’Incarto hatte sich wiederum dazu entschlossen, sich an die Regeln zu halten und ließ jegliche Gefühle außen vor. Sie überantwortete ihren Geliebten seinen Häschern. Tauron respektierte das, auch wenn ihm sein Herz sagte, dass es falsch war.
Sein Blick kehrte zurück zu Siralen und er kratzte sich abwesend den Bart. Die Elfenkommandantin hatte sich nicht von der Stelle bewegt, aber mittlerweile Gesellschaft von ihrem farblosen Blutsverwandten bekommen. Das neue spitzohrige Besatzungsmitglied klebte an seiner Vorgesetzten wie eine Schnecke an einem angebissenen Apfel. Und wenn er es sich genau überlegte, war der Kerl eine ziemliche Konkurrenz. Elfen waren immer hübscher als Menschen. Das war ein unverdientes Privileg.
Tauron lenkte sein Augenmerk auf Chara, die jetzt zu Olschewski an die Reling trat. Ihre Leibwachen und die beiden Assassinen hielten sich zurück und blieben neben der Luke zu den Mannschaftsunterkünften stehen.
Es war beängstigend still an Bord der Meerjungfrau. Der große Kuhrn hatte es sich mit Stinkstiefel und Popoken am Vordeck bequem gemacht. Der gertenschlanke zweite Maat, der eigentlich Isiltar Tomalak hieß, verdankte seinen Kampfnamen der Tatsache, dass er seinen Besatzungsmitgliedern gerne an den Hintern fasste. Was Tauron zwar nicht gerade gut fand, aber auch schlecht verbieten konnte. Die drei steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, ebenso wie die meisten anderen seiner Mannschaft. Gut, dass die Zauberkundigen, abgesehen von Lucretia und Magus Primus Kasai, nicht hier waren. Andernfalls würde es über kurz oder lang wahrscheinlich zu Reibereien zwischen den Hatschmaschin, den Robenträgern und den Piraten kommen. In letzter Zeit gingen die Wellen reichlich hoch.
Tauron blinzelte. Da war das Blitzen von Metall zwischen Chara und Olschewski …
Verdammt! Es sah ganz danach aus, als ginge es nicht ohne Blutvergießen.
„Alles klar, Olschewski“, murmelte Chara und fokussierte den Dolch in seiner Hand. „Schlage vor, Ihr kommt jetzt mit mir in die Offiziersmesse und lasst Euch von Euren Kollegen befragen. Dann bleibt Euch der dreckige Aufenthalt in der Brig erspart.“
Olschewski umklammerte die Reling, ohne dabei seinen Dolch wegzustecken – als hätte er Angst davor, über Bord zu gehen. „Ihr habt keine Vorstellung davon, was mich in der Messe erwartet, oder?“, stieß er hervor. „Ihr wisst nicht, was eine Befragung durch Magie bedeutet.“
„Kann nicht viel schlimmer sein, als eine Befragung durch mich.“ Sie grinste. Olschewski fand das offenbar nicht witzig. Nok und Iti ebenso wenig. Das knarrende Geräusch in ihrem Rücken sagte ihr, dass die beiden Dad Siki Na hinter sie getreten waren.
„Ich werde mich nicht von Euch festnehmen lassen“, bemerkte Stowokor und seine Stimme vibrierte. „Eher … sterbe ich.“
Charas Blick fiel erneut auf das Messer in seiner Hand. Die Klinge fest im Griff, drehte Olschewski sich um und suchte nach Lucretia. Chara sah keinen Grund, ihn daran