„Amy Schatz, was ist passiert?“ Sanft nahm er den Kopf seiner Tochter zwischen die Hände und beäugte das Pflaster. Gleichzeitig schaffte er es, Sue vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen.
„Sie hat Glück gehabt“, entgegnete Sue kurz. „Die Kugel hat nur den Jungen getroffen, der neben ihr stand.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Sie würde jetzt nicht anmerken, dass sie gegen den Besuch der Party gewesen war. Nicht vor Amy. Sie hoffte, ihr Tonfall und ihr Blick würden Terence ausreichend weh tun.
„Ich habe ständig versucht, euch zu erreichen, nachdem ich Amys Nachricht auf der Mailbox abgehört habe. Dein Handy“, jetzt sah er Sue anklagend an, „war für mich offenbar abgeschaltet.“
„Ich will ins Bett“, sagte Amy mit schwacher Stimme und war damit die Einzige, die sich auf die wirklich wichtige Sache des Moments konzentrierte.
„Natürlich, meine Kleine.“ Terence war ganz hibbelig in der Rolle des besorgten Vaters. „Soll ich dich hinauf begleiten?“
Amy schüttelte konsterniert den Kopf und stapfte die Treppe hinauf.
Als sie nicht mehr zu sehen war, ging Sue in die Küche und goss Wasser in den Kocher. Was sie jetzt brauchte, war eine starke Tasse Tee, warm und tröstend. Sie lehnte sich an den Tisch und betrachtete die glänzende Spüle. Mariana, die polnische Zugehfrau, die sie sich einmal die Woche trotz heftigster Gegenwehr von Terence leistete – er hasste es, fremde Menschen im Haus zu haben, die seinen Dreck beseitigten – hatte wie üblich gut gearbeitet. Sie hörte Schritte, ein Räuspern, dann war Terence da.
Er öffnete den Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Weißwein ein.
„Sue“, setzte er an,
„Ich will jetzt nichts hören“, unterbrach sie ihn barsch. „Nur so viel als kleines Update: Hilde ist tot.“
„Oh“, murmelte er. „Das tut mir leid.“
„Ich habe es den Kindern noch nicht gesagt.“
„Klar“, sagte er. „Philipps Schulfest und Amy ...“
„Schön, wie viel Rücksicht du an den Tag legen kannst.“
„Sue bitte –“
„Was heißt hier Sue bitte!“
„Du kennst doch Sondra!“
„Natürlich kenne ich sie und glaube mir, das macht es nicht besser.“
„Da war nichts. Du kennst sie doch. Die spielt mit allem und jedem.“
„Ich dachte, du wärst dir zu schade dafür, ‚jeder‘ zu sein.“
Er seufzte. „Wie ist es passiert?“
„Was meinst du jetzt? Das mit Sondra in der Praxis? Da musst du dich schon selbst fragen. Oder die Schießerei bei Amy? Wahlweise hätte ich auch noch den Tod von Hilde anzubieten.“
Sue, die Terence nicht aus den Augen ließ, bemerkte, dass die Ader, die an der linken Seite seiner Stirn leicht hervorstand, aussah, als drohte sie gleich zu platzen. Ein Zeichen höchster Erregung. Sie genoss es, ihn so wütend machen zu können.
„Hilde“, sagte er schließlich mit gepresster Stimme.
„Aha, Hilde. Deine Tochter ist dir anscheinend egal!“
Der Ton von Terence wurde scharf. „Die Tochter“, jetzt wurde er einen Hauch ironisch, „liegt unversehrt oben in ihrem Bett.“ Er schwieg eine Zeitlang, dann sagte er mit weicherer Stimme: „Ich weiß doch, wie viel Hilde dir bedeutet.“
„Jetzt rede nicht so verdammt therapeutenmäßig daher. Kapier es endlich: Es gab eine Schießerei in deinen verdammten hochwohlgeborenen Kreisen. Auf der Party, auf die du sie hast gehen lassen. Sie hätte tot sein können!“
„Jetzt bin ich wohl schuld an allem.“
„Ja. Nein.“ Sie drehte sich um und riss den Teebeutel in hohem Schwung aus der Kanne. Unzählige Tröpfchen verunzierten die vorher makellose Arbeitsfläche. „Verdammt.“ Hastig goss sie sich eine Tasse voll und wollte trinken. Natürlich verbrühte sie sich die halbe Zunge. Schnell drehte sie den Hahn auf und spülte sich den Mund mit eiskaltem Wasser aus.
Terence übte sich in der Zwischenzeit in Schweigen.
„Papa hat am Nachmittag angerufen. Hilde wollte die Straße überqueren, ein Auto hat sie übersehen. Sie war sofort tot.“
„Tragisch.“
Beide schwiegen.
„Soll das heißen, dass du hin musst?“, sagte Terence schließlich.
Eine neue Welle der Wut flutete in Sue, die sich fast schon wieder beruhigt hatte, hoch. „Dass du nicht fährst, ist ja klar. Das wäre etwas zu viel der Heuchelei.“
„Also bitte!“
Sue schüttelte den Kopf. „Du brauchst keine Angst um dein geregeltes Leben zu haben. Zumindest nicht, was Hilde betrifft. Ich will nicht zur Beerdigung.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich packe das nicht. Ich bin feige, ich weiß. Aber es ist auch so viel zu tun. Deine Vortragsreise, die letzte Korrektur für dein Buch, morgen die Feier bei deiner Familie. Das wird alles knapp, nein, das geht nicht.“ Hatte sie eben ständig deine, deine, deine gesagt? Was war eigentlich ihres? Oder unseres? Irgendwas in ihrem Leben lief gerade schrecklich schief.
„Wir geben einen Kranz in Auftrag.“
„Prima, das wird meinen Vater für unser Nichtkommen hundertprozentig entschädigen.“
Er seufzte, als bearbeitete er gerade den Fall eines hoffnungslosen Patienten. „Komm, lass uns ins Bett gehen. Es war ein schwerer Tag.“
„Wie recht du hast. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen: Du schläfst im Gästezimmer.“
Terence widersprach nicht, sondern sah sie nur lange an. Dann trank er sein Glas aus und ging nach oben.
Sue blieb sitzen, bis sie keine Geräusche mehr aus dem ersten Stock hörte. Ihr Körper war so müde, dass sie sich flach auf den Küchenboden hätte hinlegen können. Andererseits war ihr Gehirn so überreizt, dass ein Gedanke den anderen ablöste, noch bevor der alte zu Ende gedacht war. Gemeinsam hatten sie nur eines: Sie waren nicht schön.
Ins Bett zu gehen kam nicht in Frage. Das würde sie nicht schaffen. Nicht ohne Tabletten. Und selbst ohne großes pharmakologisches Wissen ahnte sie, dass das im Moment die schlechteste Lösung war. Beruhigungshämmer auf einen Cocktail aus Alkohol und Aufputschmitteln ... Sue stellte sich gerade vor, dass sie in der gleichen Notaufnahme landen würde wie Amy. Mutter und Tochter eingeliefert in der gleichen Nacht. Die Tochter wegen einer Schießerei, die Mutter wegen Medikamentenmissbrauch. Was für ein schönes Gespann! Was für ein Affront für Terence und seine hochnäsige Familie! Aber das ging selbst ihr zu weit. Auch als Kontinentaleuropäerin hatte sie eine Würde.
Ihr fiel im Augenblick nur eine Lösung ein: Bob und Backen.
Wenn es in Krisenzeiten zu früh für Beruhigungsmittel war, suchte Sue Zuflucht zu einem Mann mit einem anachronistischen Afrokopf: Bob Ross. Sie war sein treuester Fan und besaß all seine Malkurse auf DVD. Wenn er mit seiner dunklen, sanften Stimme von Lichtern sprach, mit der man dunkle Stellen aufhellen konnte, war das besser als jedes Antidepressivum. Sie hielt stets den Atem an, wenn er auf ein Bild, das harmonisch und sanft schien, in ihren Augen also völlig perfekt, ein brutales Weiß oder Schwarz tupfte, aber zum Schluss fügte sich immer alles. Nur bei ihr nicht. Natürlich hatte sie anfangs selbst versucht, unter seiner Anleitung zu malen, aber es war hoffnungslos. Das hatte schon Frau Moosleitner, ihre Lehrerin an der Volksschule, mit leisem Bedauern in der Stimme geäußert. Alles, was über eine grüne Wiese oder einen blauen Himmel hinausging, war ein Angriff auf die Augen des Betrachters. Es sah immer so aus, als hätte eine armlose Kreatur einfach die Farbe auf das Papier gekippt