„... wohlige Wärme,
die aus der dunklen Nacht ...“
Du liebe Güte, würde er jetzt den ganzen Abend aus seinen deprimierenden Werken zitieren? Glücklicherweise meldete sich ihr Handy. Sue dankte den Segnungen der modernen Informationstechnologie und nahm das Gespräch an. Es war Amy, und am Ende des Gesprächs dankte sie niemandem mehr für irgendetwas.
„Mama?“ Amy klang verzweifelt.
„Was ist denn?“
Es folgte ein herzzerreißendes Schluchzen, das im mütterlichen Stoffwechselsystem umgehend dafür sorgte, dass der Alkohol- und Amphetamingehalt im Blut vollständig neutralisiert wurde. Sue war innerhalb einer Millisekunde hellwach. „Wo bist du denn?“, rief sie ihrer Tochter zu.
„Im Krankenhaus.“
„Warum?“
Auf diese völlig berechtigte Frage brach Amy wieder in Tränen aus.
„Was ist mit dir los?“, fragte Sue so sanft wie möglich.
„Ich kann nichts dafür, Mama, ehrlich.“
Das war wohl der am meisten missbrauchte Satz in jeder Art von Beziehung.
„Bitte hol mich ab.“
Gott sei Dank, sie schien nichts Schlimmeres zu haben, wenn sie gleich entlassen werden konnte.
„Wo bist du denn?“
„Im Mile End Hospital.“
„Okay Schätzchen, ich bin gleich da.“ Das Krankenhaus lag ja nur am anderen Ende der Stadt. Sue klappte das Handy zu und winkte der Bedienung.
„Probleme?“ Peters Aussprache klang leicht verwaschen.
Sue nickte. „Meine Tochter. Eine Geburtstagsparty scheint völlig aus dem Ruder gelaufen zu sein.“
„Hoffentlich nichts Schlimmes.“
Sue zuckte mit den Achseln. „Ich glaube nicht, aber ich muss trotzdem los.“
Am Taxistand hob Peter zu einer letzten Vorstellung an.
„Sommergewitter –
Ich ducke mich unter den Baum
Ohne dich.“
„Das gefällt mir!“, meinte Sue.
Peter lächelte unglücklich (das klang absurd, war aber tatsächlich so), während er ihr die Taxitür aufhielt. „Das ist das erste Mal, dass Sie das heute Abend sagen und auch meinen.“
Sue errötete. Unterschätze nie einen Oxford-Absolventen, schwor sie sich, selbst wenn er betrunken ist.
„Soll ich Ihnen was verraten? Das Gedicht ist nicht von mir.“ In diesem Moment sah er aus wie der personifizierte Kummer. „Meine Putzfrau hat es geschrieben, sie besucht einen Haiku-Kurs in der Volkshochschule.“
Sue hatte nicht die leiseste Ahnung, mit welchen Worten sie ihn trösten konnte und drückte ihm stattdessen kurz die Hand.
„Ich glaube, ich sollte mit dem Schreiben aufhören.“ Mit diesen Worten ließ er die Wagentür zufallen und warf ihr einen letzten traurigen Blick zu.
7
Sue drückte auf die rote Telefontaste ihres Handys. Gerade hatte sie eine Nachricht von Mrs Jackson erhalten, der Mutter einer Freundin von Amy. Offenbar war es im Funky Crow zu Handgreiflichkeiten gekommen und irgendjemand – Sue betete zu Gott, dass es niemand von Amys Freunden war – hatte eine Schusswaffe gezogen und im Club wild um sich gefeuert. Einer der Partygäste (Gerüchte gingen um, es handele sich um Simon Craig, Sohn des Kulturdezernenten) war von einer Kugel getroffen worden, aber anscheinend nicht in Lebensgefahr.
Sues Herz raste. Während sie kindische Rachepläne gegen Terence schmiedete, schwebte ihr Kind in Lebensgefahr! Eine Schussverletzung – das passierte doch nur anderen. Was war das nur für ein Tag – irgendwie schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Als der Taxifahrer vorschriftsmäßig an einer roten Ampel hielt, hätte sie ihn am liebsten angeschrien, durchzufahren. Jetzt dreh nicht durch, ermahnte sie sich selbst. Amy lebt, sie hat mit dir telefoniert. Vielleicht ist alles doch nicht so schlimm. Sie würde dieses Kind nie wieder aus den Augen lassen ...
Sue war völlig aufgelöst, als sie in der Notaufnahme des Krankenhauses ankam. Sie wurde noch panischer, als sie ihren Blick auf das Publikum im Wartebereich richtete. Blutende Köpfe, lallende Jugendliche, weinerliche Männer, die sich schmerzende Gliedmaßen hielten, Veilchen in allen Ausprägungen – was für eine schöne Art, in das Wochenende zu starten.
Sue legte einen Gang zu und atmete auf, als sie im hinteren Bereich Amy zwischen einem an die Decke starrenden Inder oder Pakistani oder was auch immer und einem Schwarzen, der sich ein Auge mit einem Packen Mullbinden zuhielt, entdeckte.
Mit einem „Amy Schatz!“ flog sie förmlich über den grün-grauen Linoleumboden und nahm ihre Tochter in die Arme. Gleich danach trat sie einen Schritt zurück, um sie zu begutachten. Äußerlich schien alles in Ordnung zu sein, sah man von dem Strippflaster, das auf ihrer Stirn klebte, und dem Tränenfluss, der über ihre Wangen lief, ab.
„Wo ist Papa?“, piepste sie.
Das war wieder einmal typisch. Sie, die Mutter, raste durch die Stadt, um zu retten, was zu retten war, und alles, woran die Brut dachte, war der Vater.
„Er hat noch zu tun“, erwiderte sie knapp und strich Amy über den Kopf. „Ich suche mal einen Arzt.“
Amy nickte ergeben und ließ ihren Kopf an die Wand sinken.
Sue hatte Glück, denn auf dem Flur kam ihr ein sichtbar übermüdeter Mensch im weißen Kittel entgegen. Schmaelzle, M.D. stand auf seinem Namensschild.
„Ah ja, Mrs Urquhart“, begrüßte er sie nach einem kurzen Blick auf seine Liste. „Ihre Tochter hat Glück gehabt“, sagte er mit unverkennbar schwäbischem Akzent. „Wir haben einige Partygäste, die wir über Nacht hierbehalten müssen.“
„Keine Gehirnerschütterung?“, fragte Sue besorgt.
Dr. Schmaelzle schüttelte den Kopf. „Nein, es sieht alles sehr gut aus. Und es dürfte auch keine Narbe übrig bleiben.“ Er überprüfte noch einmal den Sitz des Pflasters. „Wäre auch schade.“ Er stupste Amy auf die Nase, als wäre sie ein Kleinkind.
Sie sah ihn angewidert an und ging einige Schritte zurück. „Ich will nach Hause.“
Sue nickte. „Ich auch.“
„Du solltest es morgen ein bisschen ruhiger angehen lassen“, meinte Dr. Schmaelzle abschließend. „Keine Party am Wochenende, okay?“
„Geburtstagsfest bei den Schwiegereltern?“, fragte Sue.
„Klingt nicht nach einer Schießerei“, meinte Dr. Schmaelzle.
„Wollen wir es hoffen“, entgegnete Sue. „Vielen Dank und auf Wiedersehen.“
Als sie gingen, fiel ihr Blick auf ein leeres Bett, das im Gang stand. Sich einfach dort hineinlegen, die Decke über den Kopf ziehen …
„Bitte Platz machen“, bellte eine wuchtige schwarze Pflegerin und schob Mutter und Tochter resolut zur Seite.
Aus der Traum. Ein Krankenhaus war keine Ruheoase. Jetzt mussten sie nur noch zusehen, dass sie ohne großes Aufsehen nach draußen kamen. Beim Hineingehen hatte Sue einige Fotografen gesehen. Kein Wunder, es war Hochsommer, die Saure-Gurken-Zeit. Da waren sogar Geburtstagspartys von Eliteschülern eine Schlagzeile wert. Tja, es hatte nicht nur Vorteile, im Dunstkreis der sogenannten guten Gesellschaft zu leben.
Als