Einen Verlängerten bitte. Elisa Herzog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisa Herzog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738021011
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Szene gemacht hatte. Das Mädchen wusste, wann es höhere Instanzen gab, denen man nicht entrinnen konnte: dem Rektor ihrer Schule, ihrer Großmutter und Zeitschriften wie Glamour oder InStyle.

      Terence war inzwischen zur Spüle gegangen und wusch sein Geschirr ab. Das hatte er gefühlt seit Jahren nicht mehr gemacht. Er war offenbar auf Wiedergutmachung aus. „Du hast gebacken.“

      Sue nickte. „So gut ist sie mir noch nie gelungen.“

      „Sue, ich –“ Seine Augen blickten ganz weich.

      Nein, bloß keine gestammelten Entschuldigungen, dachte Sue. Ich muss mich zusammenreißen. Nicht in seine Augen sehen. „Ich fürchte, wir müssen los“, unterbrach sie ihn.

      Sein knappes „Okay“ klang resigniert. Recht so, dachte Sue. Wieso fühlte sie sich dann so schlecht?

      8

      Urquhart Hall lag malerisch in der Sonne, aber Sue fühlte sich trotzdem, als wären sie auf dem Weg zum Schafott. Dabei war es lediglich die Clanmutter, der sie Reverenz erweisen mussten. Tessa hatte ihre Söhne und die nichtsnutzige Tochter (inklusive Schwiegertöchter) im eisernen Griff, während Aubrey, das Geburtstagskind, ein herzensguter Vater war, der keinem Kind etwas abschlagen konnte. Mit seiner Tochter Emma hielt er es immer noch so: Ohne seine monatlichen Schecks hätte sich die Gute in Ermangelung einer Ausbildung bei Tesco an die Kasse setzen müssen.

      Philipp stocherte zielsicher immer weiter in den Wunden seiner Familie. „Da hat wirklich einer geschossen?“, fragte er jetzt zum mindestens fünften Mal.

      „Ja, und jetzt halt endlich die Klappe, du Opfer, sonst ruf ich den Täter an und geb ihm den Auftrag, dich zu killen. Und er wird nicht vorbei schießen.“ Amy klang wütend.

      „Aber es ist doch nichts passiert“, war sein Einwand. In seinem Alter zählten Konjunktive noch nicht. Ein paar Zentimeter daneben? Na und!

      „Philipp“, sagte Sue und legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter, „wir sprechen nicht weiter darüber, okay?“

      „Und wenn Oma mich fragt?“

      „Dann haust du am besten ab.“

      „Immerhin sind wir pünktlich“, sagte Terence.

      Das bedeutete ein Minenfeld weniger, das sie durchqueren mussten.

      Als Tessa ihrer ansichtig wurde, gefror ihre Miene zu einem eisigen Lächeln. „Terence!!!! Philipp, mein Süßer!!!! Amy! Sue.“

      Ihre Begeisterungskurve sackte zum Ende der Namensnennung merklich ab, aber das hatte Sue auch nicht anders erwartet.

      Aubrey hingegen freute sich aufrichtig, sie zu sehen. Der Jubilar drückte Amy fest an sich und umarmte Sue, nachdem sie ihm die Torte überreicht hatte.

      „Du bist die Einzige, die nicht eine Standby-Leitung zu meinem Hausarzt hat“, sagte er und konnte sich nicht beherrschen, einen Finger in die Cremeverzierung zu stecken. „Ich hoffe, darin versteckt sich keine Rohkost.“

      Tessa rollte entnervt mit den Augen. „Dass du in deinem Alter noch so unvernünftig bist“, rügte sie ihren Mann. „Und du“, sagte sie zu Sue, „solltest deinen Verstand einschalten. Du weißt ganz genau, dass das für ihn nicht gesund ist.“

      „Gerade in seinem Alter sollte er tun und lassen können, was er will“, mischte sich Aubreys Bruder Selwyn ein. Der 78-Jährige war ein rotes Tuch für Tessa, fast noch schlimmer als Sue, denn er scherte sich um nichts – weder um Konventionen noch um seinen Ruf.

      „Macht, was ihr wollt“, beendete Tessa die Diskussion. „Ich muss zusehen, dass ich Mr Rossi finde. Er hat mir ein unvergessliches Buffet versprochen, und jetzt fehlt immer noch die Hälfte. Dabei war doch alles genauestens besprochen. Ich hätte doch bei Buckley bleiben sollen.“

      Bevor sich ihre Schwiegermutter abwandte, konnte Sue sich nicht verkneifen zu fragen: „Wo ist Alistair?“

      Alistair war Terences älterer Bruder und Tessas einziges Kind, das nicht zum Sorgenkind mutiert war. Terence hatte den Fehler begangen, statt eines Mädchens mit einem albernen Doppelnamen sie zu heiraten, und Emma, seine jüngere Schwester, hatte eine tiefsitzende Allergie gegen alles Beständige, seien es Jobs oder Beziehungen. Sie war Mitte dreißig und flatterte als routiniertes und mittlerweile alterndes Society Girl durch die Gesellschaft Londons. Alistair hingegen war so trocken wie ein drei Tage altes englisches Weißbrot und arbeitete als Archivar im British Museum. Er war selbstverständlich mit einer Dame mit Doppelnamen verheiratet (Helen Trent-Basingstoke) und hatte mit ihr eine Nachkommenschaft hervorgebracht, die aussah wie vergessene Artefakte aus seinem Museum. Das war gemein, aber es stimmte. Es waren Kinder mit tiefliegenden, fast unheimlichen Augen und einem Teint, der anscheinend noch nie Tageslicht gesehen hatte.

      „Der ist noch nicht da“, sagte Aubrey arglos, woraufhin Tessa schnaubte.

      Es war aber auch unangenehm, wenn ausgerechnet Mamas Liebling an solch einem Tag das familiäre Glückwunsch-Defilee verpasste.

      „Alles Gute zum Geburtstag, Vater“, sagte Terence und überreichte Aubrey das Geschenk.

      „Du siehst wieder hinreißend aus“, flüsterte Selwyn in Sues Ohr.

      „Du brillanter Lügner“, flüsterte Sue zurück. „Aber trotzdem danke. Das sind die ersten netten Worte, die ich heute höre.“

      „Die Schießerei“, nickte er verständnisvoll. „Unangenehme Sache für so ein junges Mädchen. Wie nimmt sie es auf?“

      Wie nimmt sie es auf? Mehr Understatement ging wohl nicht.

      „Sie spricht natürlich nicht darüber“, sagte Sue. „Aber natürlich ist sie traumatisiert.“

      Selwyn runzelte die Stirn. „Traumatisiert? Also ich glaube nicht an diesen Unsinn. Wenn sie Pech hat, ist dies das Aufregendste, das je in ihrem Leben passieren wird. Damals in Shanghai, da kam das mehrmals täglich vor. Im Mandarin Club ...“ Seine Augen blitzten vor Freude.

      „Ist gut Selwyn“, unterbrach ihn Sue. „Du warst ein stattlicher junger Mann.“

      Selwyn nickte.

      „Ein Abenteurer.“

      Selwyn nickte wieder und lächelte.

      „Amy hingegen ist ein behütetes Mädchen.“

      Selwyn schüttelte den Kopf. „Das mag sein, aber brauchen wir nicht alle ein bisschen Aufregung?“

      Tessas schneidend kühle Stimme drang zu ihnen vor. Beide sahen zu ihr hin, wie sie gerade ein paar Kellner im Garten hin und her scheuchte.

      „Sogar Tessa regt sich gerne auf, wenn auch künstlich“, ergänzte er. „Ignoriere sie einfach. Ich praktiziere das, seitdem ich sie kenne und fahre wunderbar damit.“

      Sue sah ihn skeptisch an.

      „Vielleicht habe ich etwas, das dich aufmuntert“, sagte er verschwörerisch.

      Sue ahnte Schlimmes. Selwyn hatte im Dienste der englischen Krone einen Großteil seines Lebens als hoher Diplomat in Südostasien verbracht. Besonders angetan hatten es ihm die erotischen Kulturgüter dieser Region, und er besaß die wohl beeindruckendste Sammlung von Lingams westlich des Ganges.

      Sie hob die Augenbrauen, was Selwyn als Interesse deutete.

      „Ich habe ein neues wunderbares Stück in meiner Sammlung.“ Seine Stimme wurde schwärmerisch. „Es ist oben, ich könnte es dir zeigen.“

      „Das freut mich für dich“, sagte Sue schnell. „Aber ich glaube, ich muss jetzt nach Amy sehen.“

      „Ich glaube nicht, dass du sie hier vor schießwütigen Monstern beschützen musst“, sagte er.

      „Aber vielleicht vor etwas Schlimmerem“, antwortete Sue.

      „Du hast recht“, sagte er. „Tessa