Einen Verlängerten bitte. Elisa Herzog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisa Herzog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738021011
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nicht allein: Gab es nicht zahllose Hobbymusiker (zum Beispiel Mr Henstringe von nebenan), die sich hemmungslos an unschuldigen Meistern wie Mozart oder Chopin vergriffen?

      Sue besaß ein Profi-Arsenal an Farben, hatte alle Pinselgrößen und formen, die es unter der Sonne gab, und unzählige Keilrahmen in den unterschiedlichsten Größen, die noch original verpackt im Keller lagerten. Wahrscheinlich waren sie mittlerweile vergilbt und die Farben eingetrocknet, denn keiner in der Familie verspürte einen ähnlichen Drang, sich künstlerisch auszudrücken, und Sue selbst fehlte mittlerweile die Zeit dafür. Terence und die Kinder betrachteten Bob Ross als Spleen, den sie mit nachsichtigem Lächeln hinnahmen. Eine Dauerschleife mit einem Althippie im Küchenfernseher war immer noch besser als eine durchgedrehte Mutter.

      Als Hommage an Hilde wählte Sue eine Folge aus, in der Bob Ross ein Bergmotiv malte. Während sich Bobs schmeichelnde Stimme wie Balsam auf ihre überreizten Nerven legte, suchte sie die Utensilien und Zutaten heraus, die sie für eine Dobostorte benötigte. Praktischerweise war diese Aktion nicht völlig sinnlos, denn am nächsten Tag hatte ihr Schwiegervater Aubrey Geburtstag, und sie würde ihn mit einer Kreation der k&k Backkunst überraschen. Aubrey konnte sich wie ein Kind für Linzerschnitten, Esterhazytorte, Sachertorte und all die anderen Nockerl und Strudel und Fleckerl begeistern, für die die österreichische Küche berühmt war. Tessa rümpfte darüber die Nase – die üppigen Backwaren und der Appetit, mit dem Aubrey diese vertilgte, waren so ... unenglisch. Da konnte ein Schmarrn hundertmal Kaiserschmarrn heißen und dem höchsten Adel zu Ehren kreiert worden sein – ein Schmarrn war ein Schmarrn. Keine Frage, dass Sue ihren Schwiegervater mochte. Er war auf seine Art – als passionierter Naturschützer und Baumzüchter, der auf Äußerlichkeiten nicht den geringsten Wert legte – ebenso ein Außenseiter wie sie.

      Während sie die Biskuitmasse rührte, stellte sie befriedigt fest, dass sie sich langsam wieder erdete. Das Wichtigste war, dass Amy körperlich unversehrt war – die seelischen Folgen waren eine ganz andere Sache. Sie würde in der nächsten Zeit ein ganz besonderes Auge auf ihre Tochter haben müssen. Nicht auszudenken, wenn ihr etwas passiert wäre. Schon der Gedanke daran fühlte sich an, als würde ein Messer in ihrem Herzen herumwüten. Sie stellte Bob ein wenig lauter.

      Vorsichtig verstrich Sue vier Esslöffel Teig auf dem Backpapier zu einem gleichmäßigen Kreis. Sie nickte zufrieden. Insgesamt musste sie sechs solcher Böden herstellen. Sie würden dann mit Buttercreme gefüllt werden, und als krönenden Abschluss gab es eine Karamellglasur, die den größten aller anzunehmenden Belastungstests für Zahnfüllungen darstellte.

      Während sie wartete, bis der Teig durchgebacken war, verfolgte sie Bobs Wirken auf dem Bildschirm. Nichts schien diesen Mann aus der Ruhe bringen zu können. Terence wirkte genauso. Unfehlbar, souverän, gelassen. Die Wirklichkeit sah anders aus, mit Sicherheit auch bei Bob, aber seine Wirklichkeit interessierte sie nicht. Er war ihre menschliche Beruhigungspille, hatte zu funktionieren und basta.

      Die Geschehnisse des Tages schienen mittlerweile ganz weit weg zu sein. War das mit Sondra wirklich passiert? Rückblickend war diese Situation so lächerlich gewesen, als entstammte sie einer billigen Telenovela. Und sie hatte mit ihrer Reaktion hervorragend in dem miesen Drehbuch mitgespielt.

      Strümpfe! Sue schüttelte ungläubig den Kopf. Aus diesem Stoff waren keine Heldinnen gemacht. Hätte sie nur ... Was hätte sie denn? Sie wusste nicht einmal, wie sie souverän hätte reagieren sollen. Sie sollte sich damit abfinden, dass sie keine Heldin war, sondern eine zuverlässige, brave, pflichtbewusste Ehefrau. Und mehr als das. Sie war diejenige, die ihm die tägliche Routine aus dem Weg räumte, damit er draußen als strahlender Held glänzen konnte. Kein Wunder, dass seine Praxis von Frauen überlaufen war. Vielleicht würde sie gleich ein Blitz treffen, weil sie so naiv war, aber sie glaubte Terence, dass er unter normalen Umständen mit Sondra nicht fremdgehen würde. Genauso wie er mit ihr ohne Viagra nicht dreimal in der Nacht schlafen würde. Als sie mit genießerischer Langsamkeit die zerlassene Schokolade in die Buttercreme tropfen ließ, war ihr eines klar geworden: Wie konnte sie Terence vorwerfen, egoistisch zu sein, wenn sie dies tagtäglich mit ihrem Verhalten unterstützte? Sie nahm ihm alles ab, was außerhalb seines Fachbereiches lag, und das war viel. Sie hatte einen 16-Stunden-Tag, dessen Ergebnisse sich immer außerhalb des Rampenlichts zeigten: täglich frisch gekochtes Essen, saubere Kleidung; sie war Mutter, Reibungsfläche und Streitschlichterin für die Kinder, Finanzverwalterin (oder zumindest Ansprechpartnerin für ihren Steuer- und Bankberater), Krankenschwester, Facility Manager (Terence hatte, was den Heimwerkerbereich betraf, zwei linke Hände), Agentin (inklusive Prellbock für Menschen, die sich geschäftlich mit Terence abgeben mussten). Und dann sollte sie auch noch hübsch aussehen. Wo sie dabei blieb, wusste sie nicht. Dabei war ihr sehr wohl klar, wie privilegiert sie war. Aber das reichte nicht. Sie wollte ihr eigenes Leben zurück. Wenigstens ein bisschen.

      „Verdammter Mist!“ Terence knallte die Zeitung so wütend auf den Tisch, dass das Honigglas umfiel und sich ein träger goldgelber Fluss über den Sportteil der Daily Mail ergoss.

      Nach einem spärlichen „Guten Morgen“ waren dies die ersten Worte, die bisher zwischen den Mitgliedern der Familie Urquhart gefallen waren. Terence war das personifizierte schlechte Gewissen und hatte sich hinter der Zeitung verschanzt, Amy saß schweigend vor ihrem Müsli und starrte in ihre Teetasse (Sue würde sich intensiv um ihr Mädchen kümmern müssen, das stand fest), und sie selbst fühlte sich müde, aber gestärkt von ihrer nächtlichen Backtherapie. Sie war schließlich die Einzige, die sich am vorigen Tag nichts zuschulden hatte kommen lassen (von der rachelüsternen Planung der Lesereise einmal abgesehen, aber das war eine lässliche Sünde, quasi vom alten Testament abgesegnet).

      Sie war also die Ruhe selbst, als sie auf seinen Ausbruch mit einem sachlichen „Was ist?“ reagierte. Sie las grundsätzlich nie Zeitung zum Frühstück. Wenn sie Terence so ansah, wusste sie auch, warum. Einen Herzinfarkt konnte man sich auch auf angenehmere Weise heranzüchten.

      „Was wird wohl sein?“, antwortete er barsch.

      „Mir würden da auf jeden Fall zwei Dinge einfallen.“ Sue ließ ihre Andeutung im Raum stehen und genoss es zu sehen, wie Terence ein wenig rot wurde.

      „Lies selbst.“ Er schob ihr die Zeitung hin, einen Tick versöhnlicher, wie ihr schien.

      Amy, die inzwischen einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeile geworfen hatte, sank immer tiefer in ihren Stuhl. Ihre langen, vom Duschen noch feuchten Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht.

      Schließlich traute sich auch Sue, sich den Ergüssen der britischen Boulevardpresse zu stellen. SCHIESSEREI IN NOBELCLUB: ELITE KIDS GANZ UNTEN. Sie konnte sich Terences Meinung nur anschließen: verdammter Mist. Auf Seite drei wurde ausführlich über die eskalierte Geburtstagsparty berichtet, bei der die Sprösslinge der Hälfte des britischen Kabinetts zu Gast gewesen waren. Auf einem Foto blickte ihnen eine derangierte Amy entgegen, natürlich mit einem Verweis auf den prominenten Vater.

      Sue atmete tief durch. Warum hatte sie nicht irgendeinen braven Kerl von zuhause geheiratet? Mit Mittelschulabschluss, einer Lehre und einem lebenslang gesicherten Arbeitsplatz? Einen Mann, der höchstens im Lokalblatt zitiert wurde, weil er seit 35 Jahren Mitglied im Vogelzüchterverein war? Die Reaktion von Tessa konnte sie sich lebhaft vorstellen – das war eine Gelegenheit für ein Schwiegertochter-Bashing vom Feinsten. Terence, dessen Gesicht eine ungesunde Blässe angenommen hatte, misshandelte seinen Toast mit einem Messer. Wahrscheinlich dachte auch er an seine Mutter. Schlagzeilen in Blättern dieser Sorte waren nichts, worüber sie amused sein würde. Sie übte sicher schon vor dem Spiegel einen ihrer berüchtigten Blicke, für die Mafia-Bosse Millionen bieten würden. Sue war froh, dass Philipp bei seinem Freund übernachtet hatte und noch nichts von der Angelegenheit wusste.

      „Ich konnte doch nichts dafür“, jammerte Amy. Sie hatte bisher keinen Bissen angerührt.

      „Ich weiß, Schätzchen“, beruhigte Sue sie.

      „Kann ich hier bleiben?“, bettelte Amy. „Ihr wisst doch, Oma ...“

      Sue und Terence sahen sich an. Sie wussten.

      „Da müssen wir durch, Kleine“, sagte Terence schließlich. „Je eher, desto besser. Dann