Einen Verlängerten bitte. Elisa Herzog. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisa Herzog
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738021011
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sie wohl gerade verstecken, dachte Sue und bemühte sich, locker zu wirken.

      „Gibt’s was?“, fragte Philipp. Er wirkte nervös.

      Schon tat es Sue leid, dass sie gekommen war. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihrem Sohn das Fest nicht verderben. Er würde noch früh genug von Hildes Tod erfahren.

      „Ich wollte mich nur von dir verabschieden.“ Philipp würde heute bei seinem besten Freund Rick übernachten.

      „Musst du schon gehen?“, fragte er ohne großes Interesse. Immer wieder glitt sein Blick zu seinen Freunden.

      „Ja. Ich muss in den Verlag.“

      Philipp nickte wissend. „Na dann, Mum, bis morgen. Holt mich aber nicht zu früh ab, wir wollen noch ein bisschen chillen.“ Und dann gab er ihr, große Überraschung, die Andeutung eines Kusses auf die Wange.

      Am Würstchenstand war ihre Ablösung eingetroffen – Laura Neville-Turner, Tochter aus nordenglischem Hochadel, verheiratet mit einem Staatssekretär. Laura verbreitete eine unangemessene Hektik, und Sue freute sich auf die Ruhe des Taxis, das sie sich gleich rufen würde.

      „Wie geht das, Sue?“ Laura klang atemlos und völlig gestresst.

      „Hot Dogs?“ Machte die Frau Witze? Hot Dogs montierte man einfach zusammen, was gab es da zu erklären?

      „Ja, ich habe das noch nie gemacht.“

      Während Sue den britischen Hochadel in die Geheimnisse der Hot-Dog-Zubereitung einwies, hegte sie revolutionäre Gedanken. In Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg der Adel abgeschafft worden, und sie konnte beim besten Willen nichts Schlechtes daran finden. Für Frauen wie Laura waren Küchen Räume, in denen nur die Bediensteten arbeiteten. Ihre eigene befand sich wahrscheinlich im Keller und wurde von schwitzenden, hohlwangigen Sklaven bevölkert. Laura selbst schien nie zu essen und passte locker in Size Zero. Sie betrachtete die vor Ketchup triefenden Hot Dogs mit derselben Verachtung wie einen hochinfektiösen Schimmelpilz.

      Als Sue sich bückte, um ihre Tasche zu holen, blieb sie mit dem Bein am Fuß des Tisches hängen. Besser gesagt an einer Schraube, die herausstand. Das Schicksal ihrer Strumpfhose war besiegelt, denn eine Riesenlaufmasche wand sich fröhlich vom Knie bis zu den Knöcheln.

      „Mist“, schimpfte Sue leise vor sich hin. „Auch das noch.“

      „Die kannst du wegwerfen“, meinte Kerry, die sich ebenfalls zum Gehen fertigmachte. „Zieh sie doch einfach aus, es ist eh so heiß.“

      „Das geht nicht“, stöhnte Sue, „ich habe noch einen Geschäftstermin in der City.“ Hektisch kramte sie in ihrer Tasche nach Ersatz. Vergeblich. Wie dumm, jetzt musste sie noch schnell eine neue besorgen.

      „Ich kann dir eine leihen“, bot Kerry an.

      „Das wäre wunderbar.“ So könnte sie sich den Weg zum Supermarkt sparen.

      Nun kramte Kerry ebenfalls in ihrer Tasche und zog etwas heraus, das nichts Gutes verhieß.

      „Die ist lila“, sagte Sue.

      „Ich habe keine andere“, entschuldigte sich Kerry. Sie musterte Sue von Kopf bis Fuß. „Ich finde, die passt.“

      Lila zu ihren beigefarbenen Schuhen und dem hellen Kleid? Im Juli? Das wäre sogar für eine Engländerin krass. Nein, sie brauchte jetzt etwas Luxuriöses. Etwas Vertrautes. Etwas Heimatliches. Ihre Wolford.

      „Ich lasse es lieber. Dann fahre ich einfach schnell in der Praxis vorbei. Aber danke für deine Hilfe.“

      Sie sah auf die Uhr. Terence war natürlich nicht gekommen.

      6

      Sue hatte Glück, dass ihr Taxifahrer keine Neigung zum Plaudern verspürte (entweder war er Autist, oder er konnte kein Englisch), und so ließ sie sich nach der trommelfellstrapazierenden Geräuschkulisse des Schulfestes dankbar in diese Oase des Schweigens fallen. Knarzendes, abgewetztes Kunstleder wurde als Ruhekissen definitiv unterschätzt, und über die verschwenderische Parfümierung des Wageninneren mit etwas, das an Kuhmist vermischt mit Patschouli erinnerte, sah sie großzügig hinweg.

      „Fitzmass Liss“, wiederholte der Fahrer ihre Zielangabe mit hoher Stimme, die so gar nicht zu seiner recht athletisch wirkenden Statur passte. Außerdem schraubte er seine Stimme bei Liss in eine Höhe, die Raum für Fragezeichen ließ. Viele Fragezeichen. Der gute Mann hatte offensichtlich keine Ahnung, wohin er fahren sollte.

      „Fitzmaurice Place“, wiederholte Sue langsam, als ob dies dem armen Mann helfen würde.

      Er sah sie erwartungsvoll an.

      „Hyde Park?“, testete sie ihn. Wenn er den nicht kannte, hatte er seine Taxilizenz wohl auf dem Mars erworben. Oder auf einem Flohmarkt billig gekauft.

      Er nickte eifrig.

      „Wunderbar. Sie nehmen die Piccadilly, rein in die Half Moon, über die Curzon in die Queen, dann in die Charles und wir sind da.“

      Er nickte immer noch eifrig, und nachdem Sues Angaben von seinem Gehirn aufgenommen, bewertet und entsprechend eingeordnet worden waren, fingen seine Augen an zu leuchten. Er hatte verstanden! Das feierte er mit einem Kavalierstart, der Sue wieder in die Polster zurückdrückte. Schön, von dort würde sie sich so schnell auch nicht wieder lösen. Die Fahrt würde bei dem Verkehr mindestens eine halbe Stunde dauern.

      Ihr Blick versank in seinem sorgfältig ausrasierten Stiernacken und schließlich in Dunkelheit, aus der sie erst wieder aufwachte, als der Fahrer vor der Praxis eine Vollbremsung durchführte. Dank der Trägheit ihrer Masse und ihrer Sorglosigkeit, was das Anschnallen betraf, knallte Sue gegen die vordere Kopfstütze, die mit einem Stickbild, auf dem Welcome to Azerbaidschan stand, verziert war.

      „Verdammt!“, rief sie und tastete ihre Stirn ab. Wenigstens kein Blut.

      Der Fahrer schien völlig unbeeindruckt; wahrscheinlich gehörte es in Aserbaidschan zum guten Ton, die Fahrgäste mit einer Beule am Zielpunkt abzuliefern. Oder waren die Westeuropäer schon zu kompletten Weicheiern mutiert? Egal, sie als Vertreterin der Weicheier regelte das, wie unter Westeuropäern üblich, pekuniär und gab ihm kein Trinkgeld. Immerhin hatte sie ihm Nachhilfe in Londoner Straßenkunde gegeben.

      Einen Vorteil hatte der Zusammenstoß ihrer Stirn mit der Kopfstütze im Taxi: Sie war wieder hundertprozentig wach. Sue ging durch den kleinen Vorgarten auf die gepflegte Fassade der Hausnummer 5 zu. Schönheit, Ruhe und Ordnung hatten immer etwas Tröstliches. Zum Glück konnte der Stadtteil Mayfair mit jeder Menge davon aufwarten. Irgendwann hatte sie Tante Hilde das alles zeigen wollen. Es aber nicht konsequent durchgesetzt. Jetzt war es zu spät. Leider nicht für das schlechte Gewissen.

      Sie tippte den Code ein und ging langsam die Treppe hoch in den ersten Stock, wo sich Terences Praxis befand. Auf dem Messingschild, das nur seinen Namen und Titel (Terence Urquhart, M.D.) trug – mehr wäre in dieser Bastion des Understatements schon zu viel gewesen –, waren Fingerspuren, die Sue mit einem Taschentuch und mehrmaligem Anhauchen wegwischte. Sie schloss auf und wunderte sich nur kurz, dass nicht zweimal abgeschlossen war. Sie hatte die hohen, hellen Räume gleich gemocht, als sie sie vor achtzehn Jahren besichtigt hatten. Sie war damals überzeugt gewesen, gute Schwingungen zu empfangen, und das war sie auch heute noch. Die unmittelbaren Vormieter waren langweilige Bankmenschen gewesen, und bei ihrer negativen Einstellung zur Finanzwelt (Halsabschneider war eines der netteren Prädikate, mit welchen sie Banker bedachte) konnte Sue sich nicht vorstellen, dass sie für deren Energie empfänglich wäre. Nein, die Erstbewohnerin war eine Lady gewesen, Lavinia de Lisle. 1760 war es noch nicht die Regel, dass eine Frau auf die Ehe pfiff. Lavinia tat es, und man munkelte, dass sie zeitweise die Geliebte des Thronfolgers gewesen war, ihn aber wegen Langeweile abservierte. Genug mit deinen Ausflügen in die Historie, schalt Sue sich, denn sie hatte nicht mehr viel Zeit.

      Sie streifte ihre Schuhe ab und machte sich leichten Schrittes auf in ihr Büro. Erleichtert warf sie ihre Tasche auf den Schreibtisch und ließ sich auf den wunderbar