Das Flüstern schwoll an zu einem gleichmäßigen Klangteppich aus Zischlauten. Sue hatte genug, scheute sich aber, nach draußen in den hektischen Londoner Alltag zu gehen. Sie hatte noch eine halbe Stunde bis zum Meeting mit Peter im Verlag. Natürlich konnte sie dort eher eintreffen und sich in aller Ruhe auf der schönen Marmortoilette frisch machen. Aber dann kam sicher wieder eine magersüchtige, karrieregeile Blondine herein und gab mit ihrer bloßen Existenz Sues Minderwertigkeitskomplex neue Nahrung. Nein, hier in der Kirche der unbefleckten Empfängnis war es besser. Aber nicht in Gegenwart zweier Seniorinnen, die an Logorrhöe litten und mit ihren dritten Zähnen klapperten. Sie stand auf. Du lässt mir keine andere Wahl, entschuldigte sie sich bei Gott, als sie sich auf zum Beichtstuhl machte. Ich bin verwirrt und brauche Ruhe, dafür hast Du sicher Verständnis.
Sie war leise, und doch drehten sich die Köpfe der alten Damen, als sie die Tür zum Beichtstuhl öffnete. Ihr Gehör funktionierte offenbar noch einwandfrei.
Die Enge der Kabine tat ihr gut. Nun war wirklich alles ausgeblendet, was störte. Gut, der muffige Geruch irritierte etwas, aber man konnte nicht alles haben. Aus purer Gewohnheit – eine katholische Kindheit legte man nicht einfach ab – faltete sie ihre Hände und stützte den Kopf auf die Hände auf. Und plötzlich war sie da, die Trauer. Um Hilde natürlich, aber auch um ihre Ehe. Was war nur mit ihnen passiert? Sie waren doch so glücklich gewesen! War sie zu naiv gewesen in ihrem Glauben, es könnte ewig so weitergehen, dass die Popularität ihre Beziehung nicht verändern würde? Sie und Terence hatten stets an einem Strang gezogen, doch es war immer nur wie selbstverständlich um seine Karriere gegangen, und dieser Strang entpuppte sich jetzt als das Mittel, das die Person Sue Urquhart ins Jenseits befördert hatte. Sie war nichts, ein Anhängsel, das außer einer abgebrochenen Fotografenlehre und Hotelfachschule nichts vorzuweisen hatte. War sie überhaupt noch attraktiv für ihren Mann? Was hatte sie schon zu bieten außer dem, was er sowieso schon bestens kannte? Er hielt sie für so selbstverständlich wie sein täglich frisch gebügeltes Hemd. Schluchzend saß sie im Beichtstuhl und ließ ihren ganzen Schmerz in ihre Tränen fließen.
„Kann ich Ihnen helfen, mein Kind?“
Sue, die nicht gehört hatte, dass der Pfarrer den Beichtstuhl betreten hatte, japste vor Schreck auf und schnappte nach Luft. Schnell packte sie ihre Tasche und stand auf. Dabei schlug sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag den Kopf an. „Nein, alles bestens“, stammelte sie und stürzte hinaus.
Alles bestens. Hatte sie jetzt gesündigt, weil sie gelogen hatte? Hier, im Beichtstuhl?
Sue hatte sich schließlich doch noch einige Minuten in die Erfrischungsräume des Verlags zurückgezogen. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, aber nach ihrem Weinkrampf in der Kirche erleichtert. Nun brauchte sie aber etwas, das sie auf Touren brachte. Diese rosaroten Dinger in ihrer Handtasche. Zwei davon und sie würde sich fühlen wie nach einem zehnstündigen Schlaf. Heute Morgen im Studio hatten sie bereits wunderbar geholfen. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie sich mit vier Tabletten täglich bereits im grenzwertigen Bereich befand, aber heute war auch ein außergewöhnlich beschissener Tag. Sie zog sich die neue Strumpfhose, die sie im Kaufhaus um die Ecke noch schnell gekauft hatte, an und strich sie glatt. Hatte sie sich wirklich mit einer Laufmasche den ganzen Weg hierher getraut? Ein wenig Zwiesprache mit Gott ließ einen anscheinend wirklich locker werden. Mittlerweile war in ihrem serotoningeschwängerten Hirn Sondra zu einer notgeilen Lachnummer mutiert und Terence ein Mann, der eine kleine Rache verdient hatte. Kleine Rache? Wieso eigentlich klein? Aug’ um Aug’. Zahn um Zahn. Die Bibel war wirklich inspirierend. Außerdem verabscheute Terence Kleinkrämerei. Mit diesem Vorsatz machte Sue sich auf den Weg zu Peter Beardsley. Es galt ein paar schöne Orte für die nächste Lesereise ihres Gatten auszusuchen.
„Portknockie. Aber das ist nördlich von Aberdeen!“ Peter Beardsley, im Verlagshaus Bromley & Petersen unter anderem verantwortlich für Lesereisen, riss seine Augen auf.
„Dort ist es sicher ganz wunderbar“, antwortete Sue beschwingt. So richtig am Arsch der Welt. „Außerdem möchten die Menschen, die in dieser rauen Natur leben, sicher auch wissen, wie sie ihr Sexleben beleben können. Darf ich mal?“ Sie deutete fröhlich auf Peters Computer. Peter nickte verständnislos, während Sue summend ins Internet ging und die Homepage dieser Perle des Nordens aufrief. Nach einigen Klicks rieb sie sich zufrieden die Hände.
„Und warum?“ Peter musste sich räuspern, bevor er diesen Satz flüstern konnte.
„Sie können ruhig lauter sprechen“, ermunterte ihn Sue. „Mein Mann ist nicht da.“ Der redete wohl gerade seinem besten Stück gut zu, sich wieder zu beruhigen. „Ich sage Ihnen warum. Dort gibt es kein anständiges Hotel zum Übernachten.“
„Aber darauf legt Ihr Mann doch so großen Wert.“ Peter sah unglücklich aus.
Sue konnte es ihm nicht verdenken. Terence legte größten Wert auf Komfort, große Hörerzahlen und eine angemessene Presse. Die konnte Peter ihm nicht immer bieten, doch Terence pflegte dann zu schmollen wie eine Primadonna und machte aus dem jungen Oxford-Absolventen eine Art persönlichen Sklaven, den er mit Aufträgen aller Art durch die Pampa schickte. Einmal sollte er ihm zum Beispiel in einem Dorf im tiefsten Norfolk das neueste Exemplar des „Zero Tolerance“-Magazins besorgen, eine Heavy Metal-Postille, die man nicht einmal in London an jedem Kiosk kaufen konnte. So gesehen war Terence ein richtiger Scheißkerl, dem es mal gezeigt werden musste.
„Wir sollten unsere Strategie ändern“, meinte Sue. „Man darf die kleinen Orte nicht vergessen. Deren Bewohner haben weniger Abwechslung und sind deshalb eher angewiesen auf ...?“ Sie machte eine dramatische Pause. „Na, was meinen Sie, lieber Peter?“
Der junge Mann wurde tatsächlich ein bisschen rot. „Sex?“
„Genau!“
„Haben Sie denn das mit Ihrem Mann besprochen?“, sagte er.
„Keine Sorge, das mache ich schon noch.“
„Aber ich weiß nicht, ob die dortigen Buchhandlungen das Honorar zahlen können“, wandte er ein. „Wenn es dort überhaupt noch welche gibt. In den letzten Jahren haben