Das eigene Maß. Margrit Hasselmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrit Hasselmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783949104091
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aber fällt der Blutzuckerspiegel wieder, und das Insulin steht ohne Nachschub da – neuer Süßhunger entsteht. Mit der Zeit erschöpft sich die Bauchspeicheldrüse, der Körper legt überschüssige Energie in Fettreserven an. Ein dauerhaft hoher Zuckerkonsum kann so zu Diabetes und Übergewicht führen.

      Aus diesem Grund fordert die gemeinnützige Verbraucherorganisation foodwatch e. V., dass stark gezuckerte Getränke nach dem Vorbild Großbritanniens auch in Deutschland mit einer Sonderabgabe belegt werden, damit die Hersteller den Zuckergehalt reduzieren. Künstliche Süßstoffe sind allerdings auch keine Lösung: Sie verstärken den Süßhunger eher noch. Der Körper erwartet durch den Geschmack einen Energieschub und wird enttäuscht – was dazu anregen kann, noch mehr zu essen. Studien deuten darauf hin, dass sich synthetische Süßstoffe negativ auf Stoffwechsel, Appetit, Geschmackswahrnehmung und Darmflora auswirken und damit sogar eher zu einer Gewichtszunahme führen könnten.38

      Verzichten wir eine Weile auf süße Speisen und Fertigprodukte, die viel Zucker enthalten, erholt sich das Geschmacksempfinden. Schon wenig Süße nehmen wir wieder viel stärker wahr, die Gier nach Zucker sinkt. Heißhungerattacken oder auch extreme Energietiefs, wie das berüchtigte „Suppenkoma“, schwinden, der Energiehaushalt wird stabiler.

       Lebensmittelwerbung

      Marketing und Werbung spielen eine nicht geringe Rolle dabei, wenn Konsumentinnen und Konsumenten nach Produkten greifen, die weder besonders gesund noch gut verträglich sind. Die warme Tasse Kakao an einem deprimierenden Regentag, Karamellbonbons vom Großvater oder der spritzige Aperitif mit Freunden im Straßencafé: Dass wir Nahrung und Getränke mit Emotionen und Erinnerungen verbinden, macht sich die Lebensmittelwerbung häufig zunutze, indem sie die Produkte mit einem bestimmten Ambiente und Erlebnisqualitäten verknüpft. Was als „Wohlfühlnahrung“ oder „Soul Food“ angepriesen wird, ist oft energiereich und schnell sättigend (und kann dadurch tatsächlich beruhigend wirken).

      Ein Großteil der täglichen Werbung entfällt auf Lebensmittel – und gerade aufwändig hergestellte und ungesunde Produkte werden besonders stark vermarktet: die knackigen Chips in der neuesten Geschmacksrichtung, die fluffige Pizza mit extra Käse, der noch cremigere Schokopudding – das Marketing suggeriert, dass die Verarbeitung Geschmack und Genuss immer weiter verbessert.

      Besonders perfide sind die Marketing-Methoden der Lebensmittelindustrie bei Produkten, die sich gezielt an Kinder wenden: Wurst in Bärchenform gepresst, vergoldete Waffelsternchen zum Joghurt, lustige Spielzeuge als Zugabe. Das Angebot an industriellen Lebensmitteln für Kinder besteht zu einem großen Teil aus Snacks und Süßigkeiten. So warnt die Verbraucherorganisation foodwatch: 90 Prozent der Lebensmittel und Getränke, die für Kinder beworben werden, enthalten zu viel Fett, Salz und Zucker.39 Dabei sind in Deutschland 15 Prozent der Kinder übergewichtig, sechs Prozent gelten als adipös (fettleibig).40 Einer der Gründe dafür ist die Fehlernährung: Kinder nehmen zu viel Süßes, fettige Snacks und Fleisch zu sich, trinken zu viel zuckerhaltige Getränke. Unverarbeitete pflanzliche Nahrung wie Obst und Gemüse kommen dagegen zu kurz.

      Die Lebensmittelwerbung trägt über die diversen Kommunikationskanäle gezielt dazu bei, dass Kinder neugierig auf die Industrieprodukte werden und sie probieren wollen. Die Fähigkeit, die Werbebilder und -botschaften einzuordnen, untersuchte 2013 eine Studie mit österreichischen Grundschulkindern. Dabei zeigte sich, dass deren Kompetenz, mit Lebensmittelwerbung umzugehen, nicht allein von ihrem Alter abhing. Faktoren wie ihr Gewicht, ihre Körperwahrnehmung, das Selbstbewusstsein und die üblichen Ernährungsgewohnheiten der Kinder spielten dabei ebenfalls eine Rolle.41

      Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften bis hin zur WHO fordern deshalb, dass an Kinder gerichtetes Marketing nur für gesunde Lebensmittel erlaubt sein sollte.

      Fazit: Lebensmittel werden aus ernährungsphysiologischen, psychologischen, sinnlichen, kulturellen und vielen anderen Gründen gewählt. Daran zeigt sich, wie komplex die Faktoren sind, die unsere Ernährung, unsere Gesundheit und ernährungsbedingte Krankheiten bestimmen. In den Industrienationen nehmen die Unzufriedenheit mit dem eigenen Essverhalten sowie ernährungsbedingte Erkrankungen und Essstörungen zu. Neben dem Gesundheitsaspekt bestimmen viele weitere Faktoren unsere Nahrungsauswahl und unser Essverhalten – so auch das zunehmende Angebot, die industrielle Verarbeitung und die Bewerbung von Lebensmitteln. Verbraucherinnen und Verbraucher sind mit einer großen Menge an Produkten konfrontiert, denen es aber teilweise an Qualität fehlt und die natürliche Prozesse wie Hunger und Sättigung aushebeln können.

      2. LEBEN IM ÜBERFLUSS

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      Von „all you can eat“ bis „all you can netflix“ – unser Ess- und Konsumverhalten wird zwar von vielen individuellen Faktoren bestimmt, aber auch von gesellschaftlichen Entwicklungen.

      Unsere moderne Gesellschaft befindet sich in ständiger, immer schnellerer Veränderung: Das Angebot an Lebensmitteln, Produkten, Dienstleistungen und damit verbundenen Möglichkeiten wächst stetig, Digitalisierung und Globalisierung erhöhen die Taktzahl. Innerhalb weniger Jahrzehnte – von der Nachkriegszeit bis heute – hat sich ein Wandel vom Mangel zum Überfluss vollzogen.

      Neben der Ernährung zeigen sich Parallelen in anderen Bereichen: Auch bei Konsumgütern, in der Mediennutzung und dem Informationsangebot ist in kurzer Zeit ein Übermaß entstanden, bei dem es schwerfallen kann, mit jeder weiteren Entwicklung Schritt zu halten. Immer wieder müssen wir uns neu damit auseinandersetzen, was wir auf welche Weise nutzen möchten und welches Maß für unser Wohlbefinden förderlich und individuell passend ist.

      Fehlen uns diese persönlichen Maßstäbe, ist der Umgang mit dem Angebot oft eher spontan und unreflektiert: vom unkontrollierten Aufnehmen über eine Verweigerungshaltung bis zum Schwanken zwischen den beiden Extremen. Das erinnert an die Erscheinungsbilder von Essstörungen: An Binge Eating mit seinen unkontrollierten Heißhungerattacken, an Anorexie mit ihrer Essensverweigerung oder an Bulimie mit ihren Essanfällen und anschließendem Erbrechen.

      Wohl nicht zufällig verweisen Sprachbilder zu Zeitgeist-Phänomenen auf krankhaftes Essverhalten: etwa „Binge Watching“ – also das endlose Konsumieren von Filmen und Serien über Streaming-Dienste – an „Binge Eating“. Oder der Ausdruck „Bulimisches Lernen“ für die Art und Weise, mit der sich beispielsweise Studierende in kürzester Zeit große Mengen Lernstoff „einverleiben“, um ihn punktgenau zur Prüfung wieder von sich zu geben.

      Umgekehrt spiegeln reale Essstörungen neben individuellen Konflikten auch gesellschaftliche Phänomene wider, wie es der Psychotherapeut Georg Milzner in Bezug auf seelische Erkrankungen beschreibt:

       „Gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder lassen erkennen, was im Unbewussten einer Lebensform gärt und arbeitet. Sie verweisen auf die Fehler dieser Lebensform, die von den Betroffenen nicht beachtet werden oder sie in ihrem Handlungsspektrum überfordern.“42

      Essstörungen und ihre Erscheinungsbilder können also auch auf problematische Aspekte unseres täglichen Lebens hindeuten, die uns im Hinblick auf unser Essverhalten und dessen gesundheitliche Auswirkungen krank machen können. Wenn inmitten des Überangebots und der individuellen Wahlmöglichkeiten dann ein persönlicher Filter und eigene Auswahlkriterien fehlen, entsteht Überforderung. Welche Auswirkungen das haben kann, zeigt sich auch im Ernährungsbereich mit seinen gegenwärtigen Ausprägungen: Zwischen all den Angeboten, den Informationen und Regeln zur Ernährung, zu diversen Produkten und Lebensstilen kann sich der Einzelne orientieren – unter Umständen aber auch verlieren.

      DER ERNÄHRUNGSMARKT

      „So is(s)t Deutschland “ – unter diesem Titel befragte das Institut für Demoskopie Allensbach 2019 im Auftrag von Nestlé 1.636 Personen zwischen 14 und 84 Jahren. Die Studie