Das eigene Maß. Margrit Hasselmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margrit Hasselmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783949104091
Скачать книгу
der Vielfalt und Verfügbarkeit von Speisen und Getränken zusammen, aber auch mit gesellschaftlichen Veränderungen.

      In unserem Alltag lösen sich feste Strukturen mehr und mehr auf, er ist häufig von Zeitmangel geprägt. Dadurch wird unsere Esskultur immer individueller und differenzierter: Die Essenszeiten, die Auswahl der Gerichte und ihre Zubereitung sind weniger festgelegt und variieren von Haushalt zu Haushalt. Familien finden sich immer seltener mehrmals täglich gemeinsam am Esstisch ein, weil sich der Tagesablauf der einzelnen Familienmitglieder voneinander unterscheidet: Berufstätige essen zunehmend in der Kantine oder auswärts, Kindertagesstätten oder Ganztagsschulen bieten Mittagessen vor Ort. Aßen 2009 noch 54 Prozent der Befragten mittags zuhause, waren es zehn Jahre später nur noch 42 Prozent. Mahlzeiten passen sich zunehmend an Arbeitszeiten oder Freizeitaktivitäten an und sind nicht mehr an feste Orte gebunden. Durch all diese Veränderungen entstehen diverse Ernährungsstile mit teilweise gegenläufigen Entwicklungen, wie wir in diesem Kapitel sehen werden.

       Von Fressmeilen & Butterbergen

      Weit mehr als 100 000 Nahrungsmittel werden heute im Markt angeboten – während wir laut Ernährungswissenschaftlern nicht mehr als 100 verschiedene bräuchten, um uns abwechslungsreich und gesund zu ernähren.44 Welche Fülle und Marktmacht die Ernährungsindustrie heute besitzt, zeigt sich auch anhand der Umsatzzahlen: Die Hersteller von Nahrungs-, Futtermitteln und Getränken zählen laut Statistischem Bundesamt mit einem jährlichen Umsatz von rund 185 Milliarden Euro im Jahr 2019 zu den fünf mächtigsten Industrien Deutschlands. Den größten Anteil daran erzielt immer noch der Bereich „Schlachten und Fleischverarbeitung“.45 2019 gaben private Haushalte für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke insgesamt mehr als 180 Milliarden Euro aus.46

      Gleichzeitig wird aber fast ein Drittel der Lebensmittel umsonst produziert – so wie die schon erwähnten „Butterberge“, die teilweise vernichtet werden mussten. Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung aus 2017 ergab, dass in nahezu allen der 7000 befragten Haushalte täglich Lebensmittel im Müll landen.47 Insgesamt bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden laut einer WWF-Analyse zufolge jährlich in Deutschland verschwendet – 10 Millionen davon wären durch besser geplante Einkäufe, richtige Lagerung und konsequentere Verwendung einzusparen.48

      Allein die Privathaushalte kommen auf sechs bis sieben Millionen Tonnen, ergab eine Studie der Uni Stuttgart. Pro Kopf sind das etwa 85 Kilogramm jährlich – was etwa dem durchschnittlichen Gewicht eines erwachsenen Mannes entspricht.49 Niederländische Forscher sahen auch einen Zusammenhang zwischen dem Wohlstand von Verbrauchern und der Menge an weggeworfenem Essen: Die Verschwendung stieg ab einem bestimmten Lebensmittel-Budget schnell an.50 Ein realistisches Maß dafür, was sie benötigen und verarbeiten können, scheint vielen Gesellschaften abhandengekommen zu sein.

      Jochen Brühl, Chef der Tafel Deutschland e. V., die überschüssige Lebensmittel sammelt und an Menschen in Not verteilt, fordert daher dazu auf, Mindesthaltbarkeitsdaten nicht als Verfallsdaten zu verstehen. Er wolle „die Menschen ermutigen, wieder auf ihre Sinne zu vertrauen, zu riechen, zu schmecken, einfach zu probieren, ob etwas noch gut ist oder nicht.“51 Eine Orientierung an eigenen Maßstäben, an der eigenen Urteilskraft – statt an einer aufgedruckten Zahl.

      Neben der Lebensmittelindustrie verzeichnet auch die Gastronomie steigende Umsätze: 2019 lag ihr Umsatz in Deutschland bei über 61 Milliarden Euro.52 In den Innenstädten hat sie die bisherige Nummer eins, die Bekleidungsgeschäfte, verdrängt. Immer mehr Kaffeeläden, Bäckereien oder Systemgastronomie-Ketten siedeln sich in den Fußgängerzonen an und bilden so genannte „Fressmeilen“. Auf den weiteren Plätzen folgen bei den City-Immobilien Drogeriemärkte, Kosmetikläden und Fitness-Studios.53 Dieser Branchenmix spiegelt damit ziemlich genau das Spannungsfeld wider, in dem sich Konsumentinnen und Konsumenten heute bewegen: zwischen Essen, Schönheit und Gesundheit.

       Snack to go – vom Dauerfuttern

      Der Geruch frischer Croissants oder eine appetitanregende Werbung: Nicht selten wird der Impuls zu essen spontan ausgelöst. In unserer gegenwärtigen Esskultur sind Speisen und Getränke praktisch permanent verfügbar – im gut gefüllten Kühlschrank zu Hause ebenso wie an Imbiss-Ständen oder in Fast-Food-Läden. Selbst Tankstellen bieten rund um die Uhr Schokoriegel und warme Gerichte an. Die Zahl der Menschen, die angaben, spontan zu essen, stieg von 2009 bis 2019 von 24 auf 34 Prozent.54 Statt fester Mahlzeiten wird immer mehr zwischendurch gegessen, auch wenn das ständige Naschen für den Stoffwechsel eine Belastung ist. Praktisch ununterbrochen könnten wir mit einem Kaffeebecher, einem Pizzastück, einem Smoothie oder einem Bagel durch die Gegend laufen. Durch das allgegenwärtige Angebot gewöhnen wir uns daran, uns beim Essen eher nach einem spontanen Verlangen zu richten als nach körperlichem Hunger.

      „To go“, „Take away“, „Ready to eat“ – unter diesen modern klingenden Begriffen reagieren Gastronomie, Lebensmittelindustrie und Werbung auch auf eine wachsende Zeitnot in der Bevölkerung. Denn im Alltag ist unsere Ernährung oft von Eile geprägt: Rasch wird ein Fertiggericht erwärmt, ein belegtes Brot vor dem Bildschirm gegessen.

      Da Einkaufen und Zubereitung viel Zeit kosten können, entstehen neue Produkte und Dienstleistungen: Küchenmaschinen, die wiegen, schneiden, garen und sich hinterher selbst reinigen. Vorkonfektionierte Kochboxen mit allen Zutaten und entsprechenden Rezepten, beworben beispielsweise für Berufstätige oder Mütter. Oder sogenanntes „Convenience-Food“ – also bequeme, vorgefertigte Nahrung –, von Tiefkühlpizza bis „Frühstückscerealien“. 2020 setzten die Hersteller damit rund 4,1 Milliarden Euro um.55 Bringdienste von Restaurants oder Supermärkten boomen ebenfalls: rund 3,4 Milliarden Euro gaben die Deutschen dafür im Jahr 2018 aus – mit steigender Tendenz.56 Diese Angebote im Ernährungsmarkt reagieren natürlich zum einen auf die Entwicklungen unserer Zeit und den Bedarf, der sich daraus ergibt. Zum anderen tragen sie auch selbst zur Beschleunigung bei, indem sie die Abläufe rund ums Essen – einen geplanten Einkauf, eine bewusste Nahrungszubereitung und eine Mahlzeit in ruhiger Atmosphäre – noch verkürzen.

       Kochen & Kochen lassen

      85 Prozent der Deutschen würden sich gerne besser ernähren, haben allerdings keine Zeit dafür – sie sind hin- und hergerissen zwischen dem alltäglichen Stress und ihrem eigenen Anspruch an eine gute Ernährung.57 Je weniger Zeit im Alltag bleibt, umso mehr wird das Kochen und Essen punktuell zu einem besonderen Erlebnis, zum Beispiel, wenn Familie oder Freunde zusammenkommen. Dazu passt, dass Kochbücher boomen: Statt einfacher Rezeptsammlungen werden immer mehr thematische Bildbände mit aufwändig arrangierten Fotos verkauft: für Gourmets, Veganer oder Berufstätige, mit Diäten, neuen Gesundheitstrends oder internationaler Küche. Digitale Angebote wie Rezepte-Apps, Kochschulen oder Food-Blogs erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit, und schließlich verbuchen Kochsendungen im Fernsehen Quotenrekorde: Vom Star-Gastronomen bis zum Hobbykoch werden kulinarische Köstlichkeiten serviert, oft noch in Form eines Duells oder einer Castingshow – selbst wenn das Esserlebnis erstmal ein virtuelles bleibt.

      Das Essengehen hat ebenfalls eine hohe Bedeutung: Laut einer forsa-Umfrage essen drei Viertel der Befragten mindestens einmal pro Monat im Restaurant, knapp jeder Fünfte sogar mindestens einmal pro Woche.58

      Genauso wichtig wie der leibliche Genuss ist dabei zunehmend die Präsentation, das Dokumentieren der schönen Erfahrung: Die selbst gekochten Gerichte oder die dekorierten Speisen im Restaurant werden fotografiert, umgehend mit Freunden geteilt oder gepostet. Essen bekommt auf diese Weise einen besonderen Status und wird auch Teil einer Selbstinszenierung.

       Ernährungswissen & Kochkompetenz

      Ernährung