Entlang des gesamten Magen-Darm-Trakts und im Zentralnervensystem werden Hunger und Sättigungsgefühle in einem komplexen Zusammenspiel von Sinneseindrücken, mechanischen Reizen und Botenstoffen weitergegeben. Dieser Informationsaustausch zwischen Darm und Gehirn wird als Darm-Hirn-Achse bezeichnet.21
Einen Sättigungseffekt gibt es allerdings auch, wenn wir uns zu einseitig ernähren – wir können nicht immer das Gleiche essen, irgendwann haben wir es „satt“. Auf diese Weise stellt unser Körper sicher, dass kein Nährstoffmangel entsteht. Dazu können noch bestimmte Aversionen kommen, wenn man beispielsweise eine verdorbene Speise zu sich genommen hat oder sie mit einem unangenehmen Erlebnis verbindet (etwa der pappige Brei während eines längeren Krankenhausaufenthalts in der frühen Kindheit). Solche verinnerlichten Abneigungen schützen uns davor, ungute oder potenziell gesundheitsschädliche Essenserfahrungen zu wiederholen.
Was und wie viel wir essen, wird aber auch über weitere körperliche Faktoren beeinflusst, wie das Alter und das Geschlecht, unsere körperliche Aktivität, in welcher Stimmung wir sind, wie hoch die Stressbelastung ist, ob wir krank sind oder Medikamente einnehmen müssen. Neben unserem individuellen Stoffwechsel können außerdem genetische Faktoren eine Rolle dabei spielen, welche Nahrung und welche Mengen wir zu uns nehmen und wie wir sie vertragen: So kann beispielsweise bei einer Laktoseintoleranz Milchzucker wegen eines fehlenden Enzyms nicht richtig verdaut werden.
Ein weiteres wichtiges Signal unseres Körpers sind Durstgefühle. Neben der Nährstoffversorgung über die Nahrung ist für das Funktionieren unserer Organe auch Wasser lebenswichtig. Daher entsteht Durst, sobald wir eine bestimmte Menge Wasser über die Haut, beim Atmen oder über den Urin verbraucht haben. Es kann jedoch passieren, dass wir das Verlangen nach Flüssigkeit als Hungergefühl fehlinterpretieren – vor allem bei Menschen, die ohnehin zu wenig trinken. Gesüßte Getränke, Säure und Salz sowie scharfe Gewürze können den Durst besonders anregen.
All diese Signale sind kluge Sicherheitsprinzipien unseres Körpers, über die er sicherstellt, dass wir uns ausgewogen ernähren und keine gesundheitlichen Risiken eingehen. Unser Körper liefert also eigentlich ganz persönliche Maßstäbe, damit wir unseren Bedarf decken und erkennen können, wann es genug ist. Eigentlich.
Geschmack
Welche Nahrung wir auswählen, entscheidet zudem auch der Geschmack bestimmter Speisen – und der Genuss, den wir uns davon versprechen. Im Gegensatz zum Hunger kann Appetit spontan auftreten und richtet sich nicht unbedingt nach dem körperlichen Bedarf. Er ist ein psychischer Reiz, ein eher genussorientiertes Verlangen nach einem bestimmten Lebensmittel.
Manche Vorlieben sind genetisch vererbt, andere werden schon im Mutterleib geprägt: Über Nabelschnur und Fruchtwasser lernt ein Baby bestimmte Geschmackseindrücke durch die Speisenauswahl seiner Mutter kennen.22 Früh entsteht auch die Vorliebe für Süßes: Bereits Neugeborene bevorzugen diese Geschmacksrichtung, denn Muttermilch schmeckt süß. Der Geschmackseindruck vermittelt, dass die Nahrung viel Energie enthält und rasch sättigt. Evolutionär bedingt bedeutet süßer Geschmack auch Entwarnung: Süße Früchte sind eher reif und ungiftig – im Gegensatz zu sauren oder bitteren.
Mit zunehmendem Alter finden wir auch Geschmack an salzigen, herben oder würzigen Speisen und entwickeln weitere Vorlieben und Abneigungen. Neben dem Geschmack entscheiden auch andere Sinneseindrücke, welche Nahrung uns anspricht: Wie sieht eine Frucht aus, wie riecht eine Milchspeise, welche Konsistenz und Temperatur hat die Suppe? Wenn uns etwas besonders gut schmeckt, wir eine Mahlzeit sehr genießen oder wir viele geschmacklich abwechselnde Speisen angeboten bekommen, animiert uns das eher zum Weiteressen – selbst wenn wir eigentlich schon längst Sättigung spüren und unser Energiebedarf gedeckt ist.
SOZIOKULTURELLE FAKTOREN
Ob norddeutscher Grünkohl mit Pinkel oder koreanisches Kimchi: Bestimmte Speisen – hier Kohl – und ihre jeweilige Zubereitung sind uns durch die Esskultur des Ortes und der Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, vertraut, und wir bevorzugen sie automatisch. Auch das ist evolutionär sinnvoll: Wir essen, was wir kennen – denn das ist wahrscheinlich sicher und unschädlich. Ab der frühesten Kindheit prägt unser soziales Umfeld unsere Ernährung und unsere Geschmacksvorlieben, genauso wie unsere Essgewohnheiten.
Familie und Erziehung
„Was auf den Teller kommt, wird gegessen.“ „Messer rechts, Gabel links.“ „Erst den Salat.“ – Die Familie, in der wir aufwachsen, bildet auch beim „Essenlernen“ den ersten und wichtigsten sozialen Rahmen. In vielen Fällen übernehmen wir von unseren Eltern zum Beispiel die Essenszeiten, die Mahlzeitengestaltung, die Essgeschwindigkeit oder die Portionsgrößen. Auch bestimmte Lieblingsspeisen, Abneigungen und familiäre Rituale werden oft „vererbt“. Essen ist dadurch eng mit unserer persönlichen Geschichte verwoben.
Als Kinder lernen wir durch Beobachten und durch Vorbilder – und übernehmen damit sowohl förderliche als auch eher ungünstige Gewohnheiten: Erleben wir gesellige Mahlzeiten mit Ruhe und Genuss oder auch das gemeinsame Kochen von leckeren, frischen Lebensmitteln, beeinflusst das unser Essverhalten ebenso sehr, wie wenn regelmäßig vor dem Fernseher gegessen oder Essen als Erziehungsmethode eingesetzt wird.
Bestimmte familiäre Verhaltensweisen können es Kindern und später Erwachsenen erschweren, in Bezug auf ihr Essverhalten auf ihre körpereigenen Signale zu hören: wenn beispielsweise für das Essen sehr strenge Regeln galten, wenn Kinder zum Essen gedrängt wurden, obwohl sie keinen Hunger hatten. Wenn sie ihren Teller leer essen sollten, obwohl sie längst satt waren, oder eher beiläufig gegessen wurde.
Aber auch wenn unsere Herkunftsfamilie unser Essverhalten in vieler Hinsicht prägt, muss das natürlich nicht für immer bestehen bleiben. Im Lauf unseres Lebens kommen weitere Einflüsse hinzu, etwa beim Eintritt ins Berufsleben, durch soziale Kontakte, mit verändertem ökonomischem Status oder bei einer eigenen Familiengründung.
Essen in Gemeinschaft
Essen ist „sozialer Klebstoff“: Das Abendessen mit der Familie oder das Kochen mit Freunden dienen als Anlass, sich über die Erlebnisse des Tages zu unterhalten oder sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Essen ist auch deshalb stark emotional besetzt, weil wir damit Geselligkeit, Nähe und gemeinschaftliche Aktivitäten verbinden. Kinder essen in der Kita oder im Hort zusammen mit Spieloder Schulkameraden, der gemeinsame Besuch der Mensa dient Studierenden zum Pflegen persönlicher Kontakte und zum Informationsaustausch. Berufliche Besprechungen verbinden wir als Geschäftsessen nicht selten mit einem Restaurantbesuch. Wie wichtig gemeinsames Essen für unser Sozialleben ist, zeigte auch eine Studie US-amerikanischer Forscher der Cornell University: Wenn Arbeitskollegen regelmäßig zusammen die Kantine besuchten, verbesserte das nachweislich ihre Zusammenarbeit und ihre Arbeitsleistung.23
„Noch ein Nachschlag?“ – Das gemeinschaftliche Essen hat Auswirkungen darauf, wie viel Nahrung wir zu uns nehmen. Sind wir in Begleitung, kann die Menge durchaus anders ausfallen, als wenn wir allein essen – dieses Phänomen wird „soziale Aktivierung“ genannt. In Studien stellten Forschende fest, dass wir in Gesellschaft bis zu 48 Prozent mehr essen.24 Wenn andere beim Büffet die Speisen auf den Teller türmen oder bei der Essenseinladung eine zweite Portion angeboten wird, greifen wir verstärkt zu. Allerdings hängt die Menge davon ab, wie vertraut uns die Tischnachbarn sind: Gegenüber Fremden oder entfernteren Bekannten wollen wir vielleicht ein anderes Bild vermitteln als bei Freunden und Familienangehörigen.
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