65 Prozent der Menschen in Deutschland erklärten laut einer Studie, dass Ernährung für sie eine große oder sehr große Rolle spielt. Allerdings geht die Schere bei diesem Thema in den letzten Jahren immer weiter auseinander zwischen besser gestellten und sozial benachteiligten Gruppen: Während Ersteren gute Ernährung wichtiger geworden ist, scheinen Letztere weniger Wert darauf zu legen.59
So ist ein hoher Bildungsgrad und ein höheres Einkommen häufig mit einem stärkeren Gesundheitsbewusstsein und auch einem besseren Ernährungswissen verbunden. Der Wunsch nach „gutem Essen“ ist bei Menschen mit hohem sozioökonomischem Status ausgeprägter – schon Jüngere setzen sich beim Einkauf und bei der Zubereitung bewusst und differenziert mit gesunder Nahrung auseinander.
Bei Menschen mit geringerer Bildung und niedrigerem ökonomischem Status sinkt dagegen das Interesse – oder es fehlen schlicht die finanziellen Spielräume. Denn gute Ernährung hat auch eine sozioökonomische Komponente: Neben dem notwendigen Ernährungswissen muss man sich beispielsweise Lebensmittel in Bio-Qualität leisten können, und die günstigsten Produkte sind ernährungsphysiologisch oft minderwertig. Ein niedriger Sozialstatus geht laut der KiGGs-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland oft mit Übergewicht und Adipositas einher.60 Zum Wissen um eine gute Ernährung gehören darüber hinaus Kochkenntnisse. Laut einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung, in der 30 000 Haushalte befragt wurden, benutzt allerdings nicht einmal mehr jeder vierte Deutsche täglich den eigenen Herd. Gerade Berufsanfänger, die aktuell einen Haushalt gründen, würden regelmäßige Mahlzeiten immer weniger kennen und oft auch nicht mehr kochen lernen.61
Doch selbst bei hohem Interesse und viel vorhandenem Wissen kann das Thema Ernährung überfordern. Immer wieder werden neue „Heilsbringer“ angepriesen, die vermeintlich gesünder, glücklicher, fitter machen – letztlich ist all das auch ein riesiger Markt. Wir erleben Menschen, die permanent damit beschäftigt sind, was man essen oder nicht essen sollte. Immer wieder gibt es neue Dogmen, was gesund und was schädlich ist – mal ist Fett verpönt, mal sind es Kohlehydrate. Heute sind Smoothies in aller Munde, morgen sollte man auf zu viel Fruchtzucker verzichten. Als zum Abnehmen die Low-Carb-Ernährung angesagt war, kam „Eiweißbrot“ auf den Markt, das zwar weniger Kohlehydrate, dafür aber extrem viele Kalorien hatte.
Angesichts der Menge an teilweise widersprüchlichen Informationen und den individuellen Wahlmöglichkeiten beim Essen scheint der Wunsch nach Orientierung zu steigen. Nicht von ungefähr führte monatelang das Sachbuch „Der Ernährungskompass“ die Bestsellerlisten an, das Tausende von Ernährungsstudien miteinander verglich.62
Ernährung als Lebensstil und „mit Haltung“
Das gesteigerte Interesse an Ernährung und gesundheitlichen Zusammenhängen führt bei einem Teil der Bevölkerung zu einem bewussteren Umgang und auch einer Experimentierlust mit der eigenen Ernährung. Eine wachsende Zahl an Menschen wählt zeitweise oder langfristig eine alternative Ernährungsform mit unterschiedlichen Konzepten und Begründungen: In Deutschland wird ihre Zahl auf 11 bis 15 Millionen geschätzt, also immerhin 13 bis 18 Prozent der Bevölkerung. Neben Vollwert-Ernährung, Trennkost, Paleo-, makrobiotischer oder ayurvedischer Ernährung macht den größten Anteil die vegetarische und vegane Ernährung aus.63 Oft sind diese Ernährungsformen zugleich mit einem umfassenderen Lebensstil verbunden, bei dem sich bestimmte Gesundheitsrituale anschließen oder beispielsweise auch bei der Kleidung auf tierische Bestandteile verzichtet wird.
Gemüse, Obst, Milchprodukte und Fleisch aus der Region, ökologisch hergestellte Produkte aus artgerechter Tierhaltung und entsprechende Gütesiegel: Für immer mehr Menschen ist ihre Ernährung nicht nur eine Frage von Gesundheit und Geschmack, sondern drückt auch eine Haltung aus. Der Anteil der Verbraucherinnen und Verbraucher mit „umwelt- und sozialethischer Konsumhaltung“ ist zwischen 2007 und 2015 um rund ein Viertel gestiegen.64 Beim Einkauf berücksichtigen sie die Auswirkungen der Lebensmittelproduktion auf die Umwelt, soziale Bedingungen und die Tierhaltung.
Zum einen steigt die Nachfrage nach entsprechenden Nahrungsmitteln, bei deren Produktion Schadstoffe oder Gentechnik, Artensterben oder Treibhausgasemissionen vermieden werden. 2001 wurde in Deutschland das staatliche Biosiegel eingeführt – 2019 setzte der deutsche Handel schon fast 12 Milliarden Euro mit Bio-Lebensmitteln um.65 Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Umsatz verdoppelt, mittlerweile sind Bio-Produkte in den Discountern angekommen.
Zum anderen verzeichnen Lebensmittel aus „fairem Handel“ ein konstantes Wachstum: 2019 wurden in Deutschland Produkte mit dem Fairtrade-Siegel im Wert von rund 2 Milliarden Euro konsumiert, ein Viertel mehr als im Vorjahr.66 Konsumentinnen und Konsumenten wenden sich damit gegen Missstände bei den Produktionsbedingungen – sei es in ausländischen Textilfirmen oder auch in hiesigen Schlachtbetrieben.
Schließlich haben Phänomene wie BSE, Dioxin in Eiern oder Hormone in der Tiermast Verbraucherinnen und Verbraucher für die Auswirkungen der Massentierhaltung sensibilisiert. Zunehmend werden Fragen der Tierhaltung diskutiert – vom Töten männlicher Legehennenküken über die betäubungslose Ferkelkastration bis zu Tiertransporten quer durch Europa.
Vegetarismus & Veganismus
Tendenziell sinkt der Fleischkonsum in Deutschland: Immer mehr Menschen essen weniger Fleisch oder verzichten sogar ganz darauf. Zwar lag der durchschnittliche Fleischverzehr im Jahr 2019 noch bei fast 60 Kilogramm pro Kopf – zusammen mit dem Verbrauch für Tierfutter, industrieller Verwertung und Produktverlusten sogar bei knapp 88 Kilogramm.67 Gleichzeitig liegt eine Ernährung ohne Fleisch oder sogar gänzlich ohne tierische Produkte im Trend: Laut Marktforschungsinstituten sollen sich in Deutschland derzeit knapp acht Millionen Menschen vegetarisch ernähren, 1,3 Millionen vegan.68 In den meisten Erhebungen liegt das Verhältnis von Frauen und Männern bei 3:269, unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist der Anteil, der vegetarisch oder vegan lebt, am höchsten. Seit 2008 nimmt der Umsatz an Fleischersatzprodukten jedes Jahr um rund 30 Prozent zu70, und die Nachfrage nach pflanzlichen Fleisch- oder Milchalternativen wird wohl auch in Zukunft weiter steigen. Industrie und Werbung greifen die Entwicklung dankbar auf: Sogar Produkte, die von Natur aus ohne tierische Bestandteile auskommen, werden teilweise als vegetarisch vermarktet.
Für die vegetarische und vegane Ernährungsweise werden sowohl gesundheitliche Gründe genannt als auch ethische Argumente wie Umweltschutz, der schonende Umgang mit Ressourcen oder der Wunsch, Tierleid zu vermeiden. Gerade in Großstädten hat sich vielerorts eine vegane Szene entwickelt mit entsprechenden Lebensmittel- und Modeläden, Cafés und Restaurants.
Wichtig ist – wie bei jeder anderen Ernährungsform auch –, die Nährstoffversorgung zu berücksichtigen, um nicht keine Mangelzustände und dadurch Heißhungergefühle auszulösen. Hat jemand allerdings ohnehin eine Essproblematik und möchte sein Essverhalten stark kontrollieren, ist Vorsicht geboten bei einem Umstieg auf eine Ernährungsform, die sehr viele Nahrungsmittel ausschließt.
Fasten
Angesichts des Überangebots in unserer Wohlstandsgesellschaft kann der Wunsch nach Reduktion oder sogar Abstinenz entstehen.