ERNÄHRUNG IM WANDEL DER ZEIT
In seiner gesamten Entwicklungsgeschichte ernährte sich der Mensch überwiegend von ballaststoffreicher, wenig bearbeiteter, pflanzlicher Nahrung, ergänzt durch unterschiedliche Anteile tierischen Ursprungs. Das entspricht im Prinzip der auch heute noch von der Ernährungswissenschaft empfohlenen vollwertigen Mischkost mit überwiegend pflanzlichem Anteil. Seit der Industrialisierung – also in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne von etwa 200 Jahren – hat sich die menschliche Ernährung jedoch stark verändert, besonders beschleunigt durch die Entwicklungen in den letzten hundert Jahren.28
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es vor allem darum, die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Während der Weltkriege starben noch Hunderttausende an Hunger und Unterernährung – nach den Entbehrungen lag der Fokus anschließend darauf, die Lebensmittelversorgung zu sichern und zu steigern. Hierfür wurde die Landwirtschaft ab den 1950er-Jahren in Deutschland staatlich subventioniert, wodurch die Produktion von Getreide, Fleisch- und Milchprodukten stark anstieg. In den Wirtschaftswunderjahren konnten die Teller gar nicht voll genug sein – der satte, runde „Wohlstandsbauch“ war ein optisches Zeichen des wiedererlangten Status. Durch Importe und zunehmende Urlaubsreisen hielten immer mehr neue Nahrungsmittel, Gerichte und Zubereitungsformen aus anderen Ländern Einzug in die deutsche Küche. Zur Steigerung der Lebensmittelproduktion trugen veränderte Anbaumethoden, Pflanzenschutzmittel und Arzneimittel in der Nutztierhaltung bei.
Kaum war genug zu essen da, wollte man schon wieder abnehmen: 1969 löste das Buch „Hurra, die Punkt-Diät ist da“ eine Diätwelle aus. Der Bestseller enthielt Punktetabellen, Wochenpläne und Rezepte. Für bestimmte Lebensmittel wurden je nach Fett-, Kalorien- oder Ballaststoffanteil Punkte vergeben. Bereits 1971 wurde von der „Volkskrankheit Übergewicht“ gesprochen.29
Die landwirtschaftliche Produktion, die der Staat nach dem Krieg durch Agrarsubventionen und Abnahmegarantien ankurbeln wollte, konnte die Nachfrage schließlich decken – Ende der 1970er-Jahre/Anfang der 1980er-Jahre überstieg sie sogar deutlich den Bedarf. Durch diese Überproduktion (und darauffolgende staatliche Ankäufe) von Lebensmitteln in Westeuropa entstanden die so genannten „Milchseen“ sowie „Butter- und Fleischberge“.30
Ab den 1980er-Jahren stieg auf der einen Seite die Nachfrage nach Feinkost und Luxusprodukten, wie Champagner und Krabbencocktail. Auf der anderen Seite entstand der Wunsch nach mehr Umweltschutz und die Aufklärung zu Ernährungs- und Gesundheitsfragen: Nach diversen Lebensmittelskandalen, dem so genannten „Rinderwahnsinn“ BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) oder nach dem Fund von Schadstoffen sowie Medikamenten im Essen ging es zunehmend um Lebensmittelsicherheit, Ökologie und Tierschutz.31 Zwischen 1979 und 1989 verzehnfachte sich schließlich die Zahl an Naturkost- und Bioläden.
Anfang der 1980er-Jahre kamen kalorienreduzierte Produkte und Light-Getränke neu auf den Markt. Da immer mehr Frauen berufstätig waren und weniger Zeit zum Kochen blieb, hielt die Mikrowelle Einzug in der Küche, Supermärkte boten ein wachsendes Angebot an Fertig- und Dosengerichten, Backmischungen, fertigen Soßen oder Tiefkühlgerichten. Auch Fast Food wurde beliebter.
Heute sind in Deutschland Lebensmittel in großer Menge, Vielfalt und hoher Qualität praktisch rund um die Uhr und unabhängig von der Jahreszeit verfügbar. Innerhalb weniger Generationen hat sich in den Industrieländern die Ernährung gewandelt von natürlichen, überwiegend pflanzlichen Bestandteilen hin zu konzentrierter, teilweise stark verarbeiteter, ballaststoffarmer Nahrung mit einem hohen Anteil an tierischen Produkten. In einigen Ländern der Europäischen Union lag dieser Anteil vor 50 Jahren noch bei 16 bis 20 Prozent, heute beträgt er bereits 23 bis 37 Prozent. Diese vergleichsweise schnelle Nahrungsumstellung birgt jedoch gesundheitliche Risiken, insbesondere in Kombination mit nachlassender körperlicher Aktivität32 – denn unsere Körper sind dazu gemacht, sich zu bewegen. Waren unsere Vorfahren noch viel zu Fuß unterwegs und verrichteten meist körperliche Arbeit, bewegen sich heute laut WHO mehr als ein Viertel der Erwachsenen zu wenig: Durch mehr körperliche Aktivität ließen sich weltweit vier bis fünf Millionen vorzeitige Todesfälle pro Jahr verhindern.33
Statt durch Hunger und Mangelerscheinungen treten in den Industrienationen gesundheitliche Probleme also vermehrt durch zu viel und zu einseitige Nahrung auf. Die Ärztin Petra Bracht und der Ernährungswissenschaftler Claus Leitzmann erklären in ihrem Buch „Klartext Ernährung“, dass sich die typischen Zivilisationskrankheiten als „Überlastung der menschlichen Regulationssysteme“ deuten ließen. „Die Folge sind die weit verbreiteten ernährungsbedingten Erkrankungen, die seit Jahrzehnten die Hauptkrankheitslast in den Wohlstandsgesellschaften ausmachen.“34
Industriell verarbeitete Nahrung
Ob Fertiggerichte, Süßspeisen, Fruchtgetränke oder Wurstwaren – stark verarbeitete Lebensmittel mit ihrem hohen Anteil an Auszugsmehl, Einfachzucker und industriell verarbeiteten Fetten spielen eine große Rolle in der heutigen Ernährung. Viele dieser Produkte werden angereichert mit Zusatzstoffen, die Geschmack, Aussehen, Verarbeitung und Haltbarkeit verbessern sollen, wie Süßungsmittel, künstliche Aromen, Backtriebmittel oder Farb- und Konservierungsstoffe. Unser Geschmack wird dadurch mit starken Reizen konfrontiert, auch eine beispielsweise besonders schmelzende Konsistenz regt den Appetit an. Für die Nahrungsqualität und unsere Gesundheit bedeuten diese Lebensmittel allerdings eine Verschlechterung. Denn stark bearbeitete, weiche und wenig voluminöse Nahrung kann schnell in großen Mengen verzehrt werden – noch bevor der Körper eine erste Sättigung registriert. Gleichzeitig sind industriell gefertigte Lebensmittel oft energiereicher, so dass in kürzerer Zeit umso mehr Kalorien aufgenommen werden.35
Claudia Niggemeier und Almut Schmid, Ernährungswissenschaftlerinnen der Universität Paderborn, untersuchten 2015, wie sich der Konsum hoch verarbeiteter Lebensmittel auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen auswirkt. Das Ergebnis war eindeutig: Je mehr Fertigprodukte die Personen zu sich nahmen, desto übergewichtiger waren sie.36, 37 Denn hohe Fett- und Zuckeranteile werden von unserem Gehirn besonders „belohnt“, weil energiereiche Nahrung in früheren Zeiten das Überleben sicherte. Mit Zucker angereicherte Produkte führen zu starken Blutzuckerschwankungen, die wiederum Heißhungeranfälle auslösen können. Daneben gehen im Verarbeitungsprozess lebensnotwendige Nährstoffe, Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe verloren, so dass der Körper selbst bei mehr als ausreichender Energie unter Umständen immer noch nicht gesättigt ist – und nach mehr verlangt.
Die süße Versuchung
Vom Schoko-Croissant am Morgen über die Kekse im Büro und den Kuchen zum Kaffee bis zu Gummibärchen abends vor dem Fernseher – so natürlich die Vorliebe für Süßes ist, so unnatürlich hoch ist inzwischen der Zuckeranteil in unserer Nahrung. Sogar industriell verarbeitete Nahrungsmittel, die auf den ersten Blick gar nicht sehr süß wirken, enthalten oft erstaunlich hohe Zuckermengen, wie Tiefkühlpizza oder Toastbrot, Salatsaucen oder Ketchup. Problematisch ist, dass wir uns dadurch an immer mehr Zucker gewöhnen. Die Empfindlichkeit gegenüber dem extremen Geschmack lässt nach, wir süßen umso stärker nach.
Die Einfachzucker in Süßigkeiten, Eis oder Gebäck können direkt verwertet werden, geben schnell Energie und wirken aufmunternd. Was für Leistungssportler sinnvoll sein kann, wird im Überangebot des Alltags