Im Unterschied zum klassischen Heilfasten – bei dem für einen Zeitraum von einigen Tagen oder Wochen auf feste Nahrung verzichtet wird –, wird seit einiger Zeit außerdem das so genannte Intervallfasten propagiert, bei dem nur einige Stunden oder einzelne Tage gefastet wird. Längere Pausen zwischen den Mahlzeiten können dem Körper guttun und ein besseres Gefühl für Hunger und Sättigung vermitteln. Ein bereits gestörtes Essverhalten kann durch radikales Fasten allerdings – ähnlich wie bei einer Diät – ins Gegenteil umschlagen oder unkontrollierte Heißhungerattacken auslösen. Daher stellt sich beim Fasten immer die Frage nach der Motivation: Es kann als Zeit der geistigen und körperlichen Selbstbesinnung dienen – unter Umständen aber auch dafür, Abnehmwünsche zu erfüllen, Tendenzen zu einer Essstörung zu verschleiern und diese damit im schlimmsten Fall noch verstärken.
Lebensmittelunverträglichkeiten
Der Begriff der Lebensmittelunverträglichkeiten umfasst Allergien (z. B. gegen Erdnüsse), Intoleranzen (wie bei Laktose oder Gluten), aber auch Überempfindlichkeitsreaktionen, etwa gegenüber bestimmten Zusatzstoffen. Diese Reaktionen werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft vermischt oder verwechselt. Zum Vergleich: Etwa 20 Prozent der Erwachsenen in den Industrieländern berichten über Unverträglichkeitsreaktionen, Lebensmittelallergien treten aber nur bei 1 bis 5 Prozent auf.71
Die Häufigkeit von Unverträglichkeiten und Allergien nimmt weltweit zu. Laut der Deutschen Zöliakie Gesellschaft e. V. ging man bis vor einigen Jahren davon aus, dass im Durchschnitt etwa einer von 1000 bis 2000 Deutschen von Zöliakie (einer Entzündung des Darms durch das in manchen Getreidesorten enthaltene Klebereiweiß Gluten) betroffen ist, neuere Untersuchungen zeigen, dass die Häufigkeit tatsächlich etwa bei 1:100 liegt. Allerdings liegt dabei nur bei 10 bis 20 Prozent der Betroffenen das Vollbild einer Zöliakie vor.72
Immer wieder allerdings nehmen Menschen nur an, dass sie an einer Unverträglichkeit leiden – etwa weil sie diffuse Symptome nach dem Essen oder Verdauungsbeschwerden wahrnehmen. Sie kaufen daher vorsorglich gluten- oder laktosefreie Produkte, weil sie diese für generell gesünder und besser halten. Auch aus diesem Grund stellen Lebensmittel, die auf bestimmte Inhaltsstoffe verzichten, einen Wachstumsmarkt dar: Die weltweit größte Ernährungsmesse Anuga erklärte „Frei von …“ zum Trendthema und zur stärksten Marktkategorie 2019. Bereits ein Jahr zuvor trug fast ein Viertel aller neu eingeführten Lebensmittel einen entsprechenden Hinweis.73
Während allergenfreie Produkte für Menschen mit nachgewiesenen Allergien natürlich existenziell sind, ist es gesundheitlich unsinnig, die Ernährung ohne eine klare medizinische Diagnose umzustellen. Gleichzeitig belastet es den Geldbeutel, denn die Spezialprodukte sind in der Regel deutlich teurer.
Manchmal kann sich hinter einer vermeintlichen Unverträglichkeit auch eine beginnende Essstörung verbergen: Die Selbstdiagnose „Intoleranz“ (ohne ärztliche Bestätigung) bestärkt diejenigen, die ihr Essverhalten ohnehin kontrollieren möchten, sich intensiv mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen. Gleichzeitig bietet es ihnen eine willkommene Gelegenheit, auch nach außen hin zu vertreten, dass diese oder jene Lebensmittel für sie schädlich sind – der Körper „verbietet“ diese ja geradezu. Auf diese Weise kann eine Essproblematik versteckt bzw. verleugnet werden – vor anderen oder sogar vor sich selbst.
Essen als „Ersatzreligion“
Während unser Alltag komplexer und fordernder wird, nimmt Einsamkeit auch unter jüngeren Menschen zu. Der Wunsch nach sozialer Identität und Gemeinschaft, nach Einkehr und Sinnhaftigkeit wurde früher oft vom Glauben und einer Gemeinde abgedeckt. Heute bedienen andere Lebensbereiche diese Bedürfnisse. Statt in die Kirche gehen wir vielleicht sonntags ins Yoga-Studio, um Ruhe und Besinnung zu finden. Über einen bestimmten Lebensstil lässt sich Anschluss an eine Community finden. Coaching, Persönlichkeitsentwicklung und Ernährungsberatung können eine Seelsorgefunktion einnehmen. Auf diese Weise bekommen die Bereiche Gesundheit, Sport und Ernährung einen sehr hohen Stellenwert – und können im Extrem zu einer Art „Ersatzreligion“ werden.
Wie sehr gerade das Thema Essen aufgeladen ist und mit moralischen Aspekten überhöht wird, zeigt sich schon in der Sprache: Wenn bestimmte Nahrungsmittel „tabu“ sind, zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Essen unterschieden wird, man „in Versuchung“ gerät oder „sündigt“. Beim Übertreten von Ernährungsgeboten entstehen Schuldgefühle, gegen „Völlerei“ und Essanfälle hilft Enthaltsamkeit. Schwierig wird es, wenn die Ernährungsreligion zu einer Art „Fundamentalismus“ führt und Andersdenkende missioniert statt toleriert werden.
Wenn Menschen dafür empfänglich sind, kann der gesundheitliche Aspekt beim Essen für sie zu einer Art Heilsversprechen werden – wer sich möglichst rein und „korrekt“ ernährt, den erwarten Gesundheit, Glück und ein langes Leben. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass ein gesundes und erfülltes Leben von vielen Faktoren abhängt.
Natürlich können ernährungsbedingte Krankheiten über eine andere Ernährung oft positiv beeinflusst oder im besten Fall sogar geheilt werden. Und selbstverständlich ist es sinnvoll, sich mit den Inhalten und Produktionsbedingungen unserer Nahrung auseinanderzusetzen. Allerdings kann sich unter bestimmten Umständen – wie schon zuvor beschrieben – eine übermäßige Beschäftigung mit der Ernährung auch negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken. Aus einer sehr restriktiven Ernährungsform kann sich eine Essstörung entwickeln, wenn sie auf bestimmte Lebensumstände und eine entsprechende Disposition trifft. Ein ohnehin schon problematisches Essverhalten kann sich durch noch so gut gemeinte Ausschlusskriterien und eine entsprechende Ernährungsumstellung verstärken. Insbesondere Menschen, die Gewicht verlieren wollen, sind empfänglich für eine neue Art der Essstörung: die „Orthorexie“, das zwanghaft „richtige“ Essen, worauf wir in Kapitel 5 noch zu sprechen kommen.
Essen als Identitätsfaktor
Schlachtplatte oder Veggie-Burger? Donut oder Bananenbrot? Krautsalat aus dem Plastikeimer oder Buddha Bowl? Was sich auf unserem Teller befindet, kann zeigen, wer wir sind oder zu welcher Gruppe wir gehören möchten. Was wir essen, was wir kaufen, wie wir unser Leben gestalten – all das ist auch Ausdruck unserer Individualität. Mit der wachsenden Vielfalt an Produkten, Nahrungsmitteln und Ernährungsstilen haben wir mehr Wahlmöglichkeiten denn je und können unsere Ernährung im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten, nach persönlichen Vorlieben und eigenen Kriterien zusammenstellen. Unsere Ernährung kann Lebensqualität ausdrücken, sie kann der Profilierung oder auch der Abgrenzung dienen und identitätsstiftend wirken – sei es durch besondere Erlebnisqualitäten, sei es über dazugehörige Prestigeobjekte wie exklusive Küchenmaschinen oder den Luxusgrill im Garten, sei es in Verbindung mit einem bestimmten Lebensstil oder einer ethischen Haltung. Das Essen hat neben seiner grundlegenden Funktion, unseren Körper zu nähren, damit noch viele weitere Bedeutungen für uns – und wird manchmal auch überfrachtet.
Nicht nur bei der Ernährung ist unser Leben durch ein Überangebot bestimmt. Daneben lässt sich das exemplarisch in drei weiteren Bereichen – Konsum, Information, Mediennutzung – beobachten, die uns durch die angebotenen Mengen und Verfügbarkeiten überfordern können. Hier müssen wir ebenfalls ein individuelles Maß finden, das allein bestimmt sein sollte durch unsere eigene Aufnahmefähigkeit und die eigenen Grenzen. Es ist notwendig, dass wir einen bewussten Umgang finden mit dem, was wir uns zuführen – nicht nur für das, was wir uns an Essen einverleiben, sondern auch, was unseren Konsum oder die „geistige Nahrung“ betrifft. Denn wenn wir uns im Angebot verlieren,