Bei einer Hochzeit wird das abendliche Buffet eröffnet. Während die anderen Gäste zu den Tellern greifen, bleibt ein junges Paar sitzen: „Wir machen seit ein paar Monaten Intervallfasten.“
Eine Frau feiert ihren 40. Geburtstag und seufzt mit verschämtem Blick auf ihren Kuchenteller: „Heute ist mein Cheat Day!“
Drei von vielen, alltäglichen Szenen, die wir so oder so ähnlich jederzeit erleben können. Menschen, die sich überlegen, was sie essen „dürfen“, die sich an wechselnde Ernährungsempfehlungen halten, über ihre neueste Diät berichten. Schon Teenager konkurrieren um den höchsten Gewichtsverlust, in der Kantine geht es darum, wer warum auf welche Nahrungsmittel verzichtet, und Partygespräche kreisen um die beste Ernährungsform.
Doch was heißt es eigentlich, wenn jemand einen „Cheat Day“ ausruft – also schummeln muss – um sich seine eigene Geburtstagstorte zu erlauben? Welche Bedeutung hat Essen, wenn eine Essenseinladung die Angst zu „sündigen“ hervorruft? Wenn mit schlechtem Gewissen oder anschließender Reue gegessen wird?
Dieses Ringen um Essen oder Nichtessen und die richtige Ernährung wird nicht nur in der täglichen Anschauung deutlich. Es drückt sich auch in Zahlen aus: Laut der Studie „So is(s)t Deutschland“ würden sich rund 85 Prozent der Befragten gern anders ernähren, als sie es derzeit tun.1 Jede vierte Zwölfjährige in Deutschland hat bereits Diäten gemacht um abzunehmen, jede Dritte ab 13 Jahren kontrolliert regelmäßig ihr Gewicht.2 Einerseits erleben wir in unserer Gesellschaft einen regelrechten Diätwahn. Andererseits gilt jeder vierte Erwachsene in Deutschland als adipös (fettleibig), ernährungsbedingte Krankheiten wie Diabetes nehmen zu.3, 4 Und schließlich gehören Essstörungen zu den häufigsten chronischen psychischen Störungen im Erwachsenenalter.5 Unser Essverhalten kann also zu Problemen sowohl für die körperliche als auch die seelische Gesundheit führen. Doch wie hängt das alles zusammen?
Zwischen Hungern, Essen und Idealen
Beim Thema Essen befinden wir uns in unserer Gesellschaft (wie in allen westlichen Industrienationen) in einem enormen Spannungsfeld: Auf der einen Seite werden wir mit einem extremen Schlankheits- und Schönheitsideal konfrontiert, das über eine Bilderflut in Medien und Werbung allgegenwärtig ist und von dem sich immerhin ein Drittel der Erwachsenen unter Druck gesetzt fühlt (bei den 18- bis 24-Jährigen sogar jeder Zweite).6 Auf der anderen Seite erleben wir ein Nahrungsüberangebot und ständige Stimulation. Dazu versprechen Industrie, Werbung und Gesundheitsapostel, dass wir auf immer neuen Wegen – bei ausreichend Disziplin! – in kürzester Zeit unsere Traumfigur erreichen könnten.
Aus diesem Spannungsfeld erwachsen oft hohe Ansprüche an sich selbst – was dazu führt, dass viele Menschen mit ihrem Essverhalten und ihrem Körper unzufrieden sind: Die Jugendliche, die sich nur von Light-Produkten ernährt. Der Student, der vor jeder Klausur nächtliche Heißhungeranfälle erlebt. Die frischgebackene Mutter, die hungert, um schnell ihre frühere Figur wiederzubekommen. Der junge Mann, der seinen Körper über stundenlanges Muskeltraining und Nahrungsergänzungsmittel formen will. Die Frau in den Wechseljahren, die ihre körperlichen Veränderungen mit strenger Diät aufzuhalten versucht. Mit ihrer Fixierung auf Selbstoptimierung und Fitness – und mit vielstimmigen Debatten um Übergewicht und die einzig „richtige“ Ernährung – fördert und honoriert unsere westliche Kultur solche Verhaltensweisen.
Die permanente Beschäftigung mit Essen und Figur ist also einerseits gesellschaftlich akzeptiert – gleichzeitig belastet sie das Leben vieler Menschen. So gaben bei einer Befragung unter US-amerikanischen Frauen drei Viertel an, dass die Sorge um Figur und Gewicht ihr Lebensglück beeinträchtigt.7 Und diese Sorgen fangen früh an, wie die großangelegte HBSC-Kinder- und Jugendgesundheitsstudie zeigte: Bei den in Deutschland befragten 11- bis 15-Jährigen fanden sich rund 40 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Jungen zu dick. 90 Prozent der Jugendlichen gaben an, im Jahr zuvor auf empfohlene oder sogar gesundheitlich riskante Strategien (wie Mahlzeiten auslassen, sich übergeben) zurückgegriffen zu haben, um das eigene Gewicht zu kontrollieren.8 Dabei ist die Körperwahrnehmung allerdings oft verzerrt: In einer DAK-Befragung unter Kindern und Jugendlichen aus Deutschland waren von den Jungen, die sich als „viel zu dick“ bewerteten, nur knapp die Hälfte tatsächlich übergewichtig – bei den Mädchen sogar nur ein Viertel.9 Welche Folgen aber hat es, wenn eine verzerrte Wahrnehmung über unser Lebensglück – und unsere Gesundheit – entscheidet?
Wenn Essen zum Problem wird
Der Dauerabgleich zwischen Ideal und Realität führt dazu, dass immer mehr Menschen ihren Körper ablehnen – und das schon bei ganz durchschnittlichen, gesunden Körperformen. Wir können bereits Sechsjährige erleben, die sich nicht in Badekleidung zeigen wollen, weil sie sich nicht als dünn genug empfinden – oder 60-Jährige, die sich zeitlebens unwohl in ihrem Körper fühlen. Menschen, die ständig Kalorien zählen, deren Gedanken den ganzen Tag um Essen oder Verzicht kreisen, die immer wieder Heißhungerattacken erleben. Die vielleicht schlank sind, aber dennoch in der permanenten Angst leben zuzunehmen. Oder die übergewichtig sind und sich danach sehnen abzunehmen, aber immer wieder daran scheitern.
Dadurch, dass es so „normal“ erscheint, ständig mit seinem Essverhalten, mit Figur und Gewicht zu hadern, nehmen wir es allerdings nicht als eigenständiges Problem wahr. Stattdessen endet es immer wieder mit den üblichen Scheinlösungen: ein sehr kontrolliertes Essverhalten, Ernährungsexperimente, die nächste Diät oder aufwändige Trainingspläne. Ein Scheitern an den unrealistischen Zielen ist dabei meist vorprogrammiert – dennoch ist der Frust groß, wenn sich nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen.
Dieses Problem – auch und gerade unterhalb der Schwelle einer diagnostizierbaren Essstörung – ist so allgegenwärtig, dass wir es zum Thema dieses Buches gemacht haben. Denn das Eingeständnis, ein Problem mit dem Essen zu haben, ist immer noch ein großes Tabu.
Wo fängt eine Essstörung an?
Laut Robert-Koch-Institut zeigt bereits ein Fünftel der 11- bis 17-Jährigen einzelne Symptome einer Essstörung.10 Ein problematisches Essverhalten bedeutet zwar noch nicht, zwingend an einer Essstörung zu erkranken. Es stellt aber einen Risikofaktor dar, der im Zusammenspiel mit anderen Faktoren dazu führen kann.
Wenn wir an Essstörungen denken, haben wir vielleicht einschlägige Bilder im Kopf von Teenagern oder Models, die sich zu Tode hungern. Essstörungen haben aber viele Gesichter: Man versteht darunter neben der Anorexie (Magersucht) auch Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating-Störung (starke Essanfälle mit Kontrollverlust). Diese Krankheitsbilder wirken zwar zunächst sehr unterschiedlich, dennoch gibt es Übergänge und Mischformen. Fachleute sehen das als Zeichen, dass die verschiedenen Essstörungen in ihrer Entstehung und Bedeutung eng miteinander verbunden sind und ihnen dieselben inneren Zustände und Konflikte zugrunde liegen können.11 Dabei gilt: Untergewicht ist nicht gleichbedeutend mit einer Essstörung. Normalgewicht schließt eine Essstörung nicht aus. Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) sind keine Essstörungen – können aber insbesondere aus einer Binge-Eating-Störung entstehen (mehr Informationen dazu finden Sie in Kapitel 7).
Wie psychische Erkrankungen insgesamt, nehmen auch Essstörungen zu: So gab die AOK Nordost beispielsweise 2018 bekannt, dass die Zahl der Erkrankungen unter den 6- bis 54-jährigen Versicherten von 2010 bis 2016 um 74 Prozent angestiegen war.12
Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung seit dem Frühjahr 2020 nochmal verstärkt. Im Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen standen laut dessen Leiterin Sigrid Borse die Telefone nicht mehr still: Viele Mädchen und Frauen meldeten sich, die spürten, dass sich ihre Beziehung zu Essen und Körper in den Lockdown-Phasen verändert hatte.13
Durch die psychische Belastung sowie das Fehlen von