Wer mir nicht glaubt, lese hierüber die Vorrede des arbeitsamen Johnsons zu seinem Englischen Wörterbuche, und er wird vor einer Kritik zittern, die ihn drei tausend Jahre zurück, in einen so frühen Zeitpunkt der Griechischen Sprache, als in welchem der Dichter ihrer Jugend Homer sang, werfen will. Wenn schon zur Zeit Aristoteles gebohrne Griechen über einzelne Wörter Homers zweifelhaft waren: werden wir alsdenn nicht weit öfter, wenn es insonderheit auf Würde der Wörter ankommt, in der Sprache des ehrlichen Sancho Pansa sagen müssen: Gott weiß, wie Homer hätte dichten sollen. Ich rede nicht von dem Sinne desselben, sondern von dem Gefühle seiner Epischen Würde in der Sprache: und zum Behufe des letztern, reichen die vielen Hülfsmittel unter den Griechen selbst da zu, Homer beurtheilen zu wollen?
Ich gebe ein Beispiel, das ich brauchen werde. Das Wort γελοιον hieß in den Zeiten der alten griechischen Einfalt, überhaupt, was Freude, was Lachen erwecket, ohne daß dies Lachen der Freude noch ein Gelächter des Spottes sein dorfte. Das γελοιον in einem Menschen war der Charakter eines süßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war Annehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieser unschuldigen Einfalt abwichen; desto mehr wurde der Begriff des »Lächerlichen« daraus. Das γελοιον in einem Menschlichen Charakter ward das »Piquante« des Witzlinges, und endlich ganz die Narrenkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Austritte ward das »Lächerliche,« und endlich das »Belachenswürdige.« Welche Umwandlung von Ideen! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt das γελοιον allemal für eine Possenreißerei nehmen will, weil etwa in der lateinischen Ubersetzung »ridiculum« steht, und darnach einen Menschencharakter in Homer längelang beurtheilen, und tadeln, und verdammen wollte, der könnte freilich sein Wörterbuch, und seine Uebersetzung, und die Meinung einiger alten Grammatiker auf seiner Seite haben, nicht aber darum auch den ursprünglichen Homer. Ueber den muß man nicht aus Uebersetzung und Wörterbuche, sondern aus dem lebendigen Gebrauche seiner Zeit urtheilen, oder das sicherste Wort wählen: ουκ οιδα!
Zweitens. Wenn die todte, die körperliche Natur, die Homer malet, sich seit ihm schon sehr verändert hat, wie viel mehr die Natur der Menschen, die Manier der Charaktere, die Nüancen, in denen sich Leidenschaften äußern! Eine Griechische Seele war gewiß von andrer Gestalt und Bauart, als eine Seele, die unsre Zeit bildet. Wie verschieden die Eindrücke der Erziehung, die Triebfedern des Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung des Lebens, der Anstrich des Umganges! Wie verschieden also das Urtheil über die Würde der Menschheit, über die Beschaffenheit des Patrioten, über die Natur der Götter, über die Erlaubnisse des Vergnügens, über Anstand und Zucht – wie verschieden damals und jetzt! So weit Athen von Berlin, so weit müssen sich die Jugendeindrücke Homers hierüber von dem Urtheile eines seiner heutigen Kunstrichter entfernen. Wer die Geschichte des menschlichen Geistes in allen Zwischenzeiten zwischen Homer und uns kennet, wer den Umwandlungen und Vermischungen der Begriffe von menschlicher Natur, Religion, Gelehrsamkeit, bürgerlichem Interesse, Sittsamkeit und Wohlstande in allen diesen Zeiten nachgespüret, wer Augen hat, um den Ort zu sehen, auf welchen ihn die zusammen gesetzten Kräfte so vieler Zwischenjahrhunderte geworfen haben, der wird in allem, was Charakter einer Menschenseele ist, ungemein rückhaltend seyn. Er wird Homer, den Schöpfer menschlicher Charaktere, studiren; er wird in den Zeiten desselben nach der damaligen Gestalt dieser so wichtigen Begriffe forschen: aber, wie ein Areopagit im Finstern urtheilen? Kaum!
Der Verfolg wird Beispiele liefern, wie schielend es sey, über den Uebelstand homerischer Götter und Helden, und Menschen nach den Begriffen unsrer Zeit zu urtheilen. – Jetzt will ich nur fragen: ob Homer habe fehlen können, daß er sich nach den Sitten seiner Zeit bequemete? und nach welchen er sich denn hätte richten sollen?16
Homer mußte sich nach den Sitten der Zeit vor ihm bequemen: denn aus dieser schilderte er seine Helden, und was er also in derselben für Begriffe von Heldengröße, Heldenklugheit und Wohlstand fand, ward die Basis seines Gedichts. Wenn diese Heldengröße ohne Leibesstärke, ohne Schnelligkeit, ohne Wildigkeit der Leidenschaft, ohne eine edle Einfalt in klugen Anschlägen, ohne eine kühne Rauhigkeit nicht bestehen konnte: so wurden auch alle diese Charaktere seinem Gedichte eigen.
Auf solcher Grundlage stand sein Gebäude: Ein Gedicht für seine Zeit. Die Vorstellungen der verflossenen Jahrhunderte sollten in der Sprache seines Zeitalters, nach dem Gefühle eines Sängers, der in diesem Zeitalter gebildet war, nach dem Augenmerke einer Welt von Zuhörern, die nach ihrer Zeit dachten, vorgestellet werden: so sang Homer, und anders konnte er nicht singen – Ein Barde voriger Zeiten für seine Zeit. Wer sich in diese zurück setzen kann, in Erziehung und Sitten, und Leidenschaften und Charaktere, und Sprache und Religion – für den singt Homer, für keinen andern.
Es ist lächerlich, vom Homer fodern, daß er sich nach den Sitten, einer künftigen Zeit hätte richten sollen. Dazu gehört Gabe der Weissagung, und noch was mehr, die Gabe unmögliche Dinge zu thun. Wenn wir fodern, daß Homer für unsre Zeit und Denkart hätte schreiben sollen, so hätte es ein alter Indianer und Perser, der Homeren in seiner Sprache las, auch fodern können! So auch ein scholastischer Mönch des funfzehenten Jahrhunderts, wenn er über Homer kam! so auch ein hottentottischer Kunstrichter, wenn einmal der Genius der Wissenschaften Europa verlassen, und mit Homeren in der Hand nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung ziehen wird! so auch ein jeder Thor von Einsiedler, der auf einer Säule, wie Simon der Stylite, alt und grau wurde! Alle werden alsdenn im vereinigten Chore mit unserm lateinischen Perrault anstimmen können:17 Homerum dormitasse aliquoties, apparet. Quod iis in locis inprimis patere existimo, ubi ... suae aetatis moribus inservit nondum politis satis, & cum simplicitate rusticum aliquid & asperum habentibus. Und was würde aus Homer, wenn er sich nach jedem Kunstrichter hätte richten wollen?
Nein! mein Homer soll sich nicht nach meinem Zeitalter gerichtet haben, die Sitten des seinigen mögen so weit abgehen, als sie wollen. Ich bin zu bescheiden, ihn summam vim & mensuram ingenii humani zu nennen:18 denn wer bin ich, daß ich die gesammten Kräfte der Natur wägen, und das Maaß erfassen wollte, das die Mensur des menschlichen Geistes enthält? Wer bin ich, daß ich die Linie ziehen könnte: so hoch reicht Homer, und so hoch kann der menschliche Geist reichen! So sehr ich ihn, als die edle Erstgeburt der schönen dichterischen Natur in Griechenland, liebe; so gern ich ihn, als den Vater aller griechischen Dichter, verehre: so blöde bin ich, ihn, als den Umfang, als das Maaß des menschlichen Geistes, zu betrachten: so blöde, es abwägen zu wollen, wie auch nur die Dichterische Natur ihre Kräfte in ihm erschöpfet. So lange mir Apollo nicht den Wunsch erfüllet, die Metamorphosen des menschlichen Geistes auch in einer solchen Metamorphose meines Geistes durchwandeln und durchleben zu können: so lange ich nicht mit den Ebräern ein Ebräer, mit den Arabern ein Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde, wesentlich, und durch eine Umwandlung meiner selbst geworden bin, um Moses und Hiob, und Ossian in ihrer Zeit und Natur zu fühlen: so lange zittere ich vor dem Urtheile: »Homer ist die höchste Masse gesammelter Kräfte des poetischen Geistes, das höchste Maaß der dichterischen Natur.« Und ist schon bei Einer einzigen Seite der Natur, und des menschlichen Geistes, als Dichterisches Genie ist, ist da dies Urtheil schon so schwer: wie kann ich den Umfang gesammter Geisteskräfte, das Maaß der ganzen Menschennatur in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur bei