Unter Masken. Ludwig Fladerer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig Fladerer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783904123600
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Zeit an. Das Sentiment ist für uns Teil einer Szene in einem Stück, das den höheren Gesetzen der Schönheit und Vernunft dient.«

      Der Schauspieler führte seine Tasse an den Mund, streckte dabei seinen kleinen Finger grazil nach oben. »Sie hingegen sind Bürger einer neuen Welt, in der Empfindsamkeit über die Form siegt. Sie werden es noch erleben, dass man die Qualität eines Stücks nach der Gunst des Pöbels misst, nach dem, was dieses Untier fühlt. In Ihrer neuen Zeit ersetzt man das Lächeln durch das Geheul, man glaubt auf einmal an hohe Begriffe. In Ihrer neuen, schönen Zeit wird man sich einbilden, Ehen aus dem Gefühl heraus schließen zu müssen. In den Baumhütten der Wilden erkennt man jetzt eher den Bauplan des göttlichen Willens als im Kosmos des Gartens von Versailles. Ja, Versailles. Dort haben wir einen Brunnen, der Göttin Latona geweiht. Sie steht in der Mitte, rings um sie recken sich ihr Mischwesen entgegen, teilweise noch Mensch, dann schon Kröte. Doch sie werden das erhabene Podest der Göttin nie erreichen können. Die Sage weiß, dass es einst Bauern gewesen waren, die aus purem Neid der Göttin und Mutter Wasser verwehrten. Sie wurden zur Strafe in niedriges Getier verwandelt. Geblieben ist ihnen ihr schmähsüchtiges Gequake – das Leben müssen sie nun im Morast verbringen. Doch der Bann der Göttin ist gebrochen. Diese Frösche steigen nun unaufhaltsam aus dem Dickicht des Schilfs ans Licht, ein unzählbares, gleichförmig kriechendes Scheusal. Einzeln schwächlich, als Masse unbezwingbar. Ich fürchte, lieber Lilljehorn, Ihr König ist ebenso wenig wie meiner imstande, diese Ausgeburten zurückzudrängen. Der Zorn von Königen ist zu schwach gegenüber dem Gezeter von Freiheit, Gleichheit und Nation.

      Ich war Theaterprinzipal, König der Bühne. Jeder Seufzer, jeder Schritt, jede Verbeugung meine Creation. Aber meine Kompagnie existiert nicht mehr. Sie ist ebenso zerrissen zwischen alter und neuer Zeit wie unsere ganze Welt. Gestern habe ich einen unserer »Modernen«, im Übrigen ein unbedeutender Statist, geohrfeigt. Noch hat die Mehrheit gelacht und stand auf meiner Seite. Aber es werden sich andere erheben und seine Stelle einnehmen. Deswegen danke ich ab, führe meine Truppe aus Schweden und löse sie auf. Ab jetzt werden sich die Tragödien im Leben ereignen, unser Versuch als Künstler, sie aus dem Leben auf die Bühne zu verbannen, ist gründlich fehlgeschlagen. Sie sind ein Mann von Charakter, vielleicht gelingt es Ihnen, mit Ihren Tugenden, die ich nicht mehr verstehe, größeres Unheil unter diesen neuen Helden zu bannen. Aber vergessen Sie Madame de Geer und seien Sie ihr nicht gram!«

      Monvel erhob sich unvermittelt und verbeugte sich vor Ribbing und Carlotta. Arm in Arm, er stolz, sie glockenhell lachend, standen sie vor Lilljehorn. »Lieber Oberstleutnant, können Sie mir verzeihen, dass ich mich gestern Abend nicht von Ihnen verabschiedet habe? Aber die aufregenden Szenen beim Tanz brachten mich wohl ein wenig aus dem Takt.«

      Lilljehorn blickte Monvel an und hatte verstanden.

      7

      Im Gasthof herrschte lautes Durcheinander. Monvel drängte mit seiner Kompagnie zum Aufbruch, die Gäste der abendlichen Tanzveranstaltung strömten in den Speisesaal und verlangten nach dem Frühstück. Ribbing machte mit Carlotta seine Honneurs, stolzierte von Tisch zu Tisch. Lilljehorn wäre am liebsten Monvel ins Freie gefolgt, aber der war mit dem Beladen seiner Schlitten beschäftigt. Französische und schwedische Flüche drangen vom Tor des Gatters in die Stube. Ob Wagenknechte sich um die Vorfahrt drängten, oder ob die Pferde störrisch nicht ins Geschirr gingen – Lilljehorn wusste es nicht und wollte es nicht wissen. Erst als er sich mit dem siedend heißen Kaffee die Lippen verbrüht und seine Tasse zerbrochen hatte, sah er sich um und nahm an den Gästen eine merkwürdige Verwandlung wahr: Während er abends noch mit Carlotta allein unter Fremden getanzt hatte, kannte er nun beinahe jedes Paar, jedes Gesicht. Der grobe Bürgerrock hatte der seidenen Tracht des Adels Platz gemacht. Unter ihren Perücken erkannte er sie wieder, Name und Titel stellten sich ein. Hier die Grafen Horn, Vater und Sohn, dann Baron Bjelke, Graf Anckarström und Dutzend andere, denen man im Königsschloss, in der Oper oder in den feinen Salons der gehobenen Gesellschaft begegnete.

      Natürlich hatte auch Carlotta ihr weißes Kleid mit den blassrosa Schleifen abgelegt und erschien jetzt in ihrem glänzenden Reisekostüm. Der Vorhang war gefallen, das Spiel von gestern zu Ende. Ihn hielt hier nichts mehr. Einem Knecht gab er den Auftrag, die wenigen Reiseutensilien in den Schlitten von Ribbing zu verstauen. Doch der war untröstlich, er habe mit Madame de Geer seine Aufwartung bei deren Eltern zu machen und könne dem Herrn Oberstleutnant den Umweg nicht zumuten. Aber es stehe ein bequemeres Fuhrwerk parat mit einer, so wiederholte der Bursche, um ja kein Wort zu verdrehen, höchst interessanten Gesellschaft. Lilljehorn fügte sich, dankbar, dass ihm die Peinlichkeit zu dritt erspart geblieben war, musste aber Carlotta zum Abschied die Hand küssen. Dann sah er sich noch einmal um, sah in den Tanzsaal, wo er diese Hände umfasst hatte, wo sie beide allein gewesen waren, alles in allem. Ein letzter Händedruck, dann riss er sich fort.

      Draußen war nach der Abfahrt der Franzosen Ordnung eingekehrt. Schon auf dem Trittbrett des Schlittens wurde ihm bewusst, dass man ihn erwartet hatte. »Herr Oberstleutnant, es ist mir ein Vergnügen. Wir haben, meine ich, schon unsere Bekanntschaft gemacht. Maskenball März 91 bei Gräfin Fersen. Jedenfalls darf ich Ihnen meinen Vater und hier General Pechlin vorstellen.« Es war der junge Klaes Horn, der so munter drauflosplapperte, als ob sie die besten Duzfreunde wären.

      Einen Maskenball bei den Fersens hatte er nie besucht. »Meine Herren«, erwiderte Lilljehorn, »ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir aus einer Verlegenheit geholfen haben.« Weiter wusste er nicht, er fühlte sich im engen Schlitten, dessen Bedeckung geschlossen war, wie lebendig begraben. Den General mit dem ständig sarkastischen Lächeln kannte er wohl vom Hörensagen als Rebell und Verfechter der Adelsmacht im Reichstag. Der alte Horn, ein bulliger Mitfünfziger, sah abwechselnd zu seinem Sohn Klaes und zu Pechlin. Lilljehorn tat so, als ob er an der vorbeiziehenden Landschaft interessiert wäre, aber bald schon vereiste das Glas des Schlittens. Den drei Gesichtern vor ihm, die sich wie Larven vor der dunklen Bespannung des Schlittens abhoben, war er bis Stockholm ausgeliefert.

      Endlich setzte Horn ein: »Gestern beim Ball«, er räusperte sich, doch sein Sohn blickte betreten zu Boden, »also gestern beim Ball gaben Sie und Carlotta ein schönes Paar ab, viel ­Esprit, ja, ich glaube, das ist das richtige Wort, Esprit. Und dieses Ungestüm beim Deutschen Tanz, Courage, mein Lieber. Und dann Monvel mit seiner Ohrfeige, Sie verstehen, keine Gelegenheit, ein vernünftiges Wort zu wechseln. Wie es der Zufall fügte, hatten sich mehrere Patrioten zu dieser harmlosen Unterhaltung auf dem Lande zusammengefunden, doch die Lage in unserer Heimat – unsere Gedanken, waren mitten unter diesen Zerstreuungen abwesend, jedes unserer Gespräche drehte sich um das Unglück unserer Nation.«

      Jetzt streckte Pechlin seinen Kopf aus dem Pelzmantel hervor und bedeutete Horn zu schweigen. »Was Graf Horn sagen will – wir hätten uns auch gerne mit Ihnen unterhalten und wollen jetzt nur das Missverständnis ausräumen, wir hätten Sie von unseren Räsonnements ausgeschlossen. Sie genießen einen hervorragenden Ruf, auf Leute wie Sie müssen wir hören. Was in Frankreich passiert, ist Ihnen bekannt. Wie denken Sie darüber? Ist auf Ihr Regiment und auf die Artillerieeinheiten Verlass, wenn es zu einem Umsturz kommt? Gehorchen die Leute ihren Kommandanten bedingungslos?«

      Das war er wieder, Pechlin, der nach der Machtübernahme durch Gustav geflohen und als einer der wenigen Aristokraten verhaftet worden war. Dann hörte man wenig von ihm, seine ausgedehnten Besitzungen in Alhult und sein Palais auf Blasieholmen durfte er aber behalten. Lilljehorn war auf einmal hellwach. Denn einer der Obersten, die ihre Einheiten dem König bei seinem Staatsstreich gegen den Reichstag zur Verfügung gestellt hatten, war der alte Graf Horn gewesen, jetzt Reisegefährte Pechlins. In welche Natternbrut war er da geraten: »Meine Herren, ich habe keinen Grund, an der Treue und der Loyalität meiner Garde dem König gegenüber zu zweifeln. Über Politik spreche ich mit Subalternen grundsätzlich nie.«

      Pechlin zeigte kein Anzeichen von Missmut: »Nichts anderes haben wir von Ihnen erwartet. Aber ich bin mir sicher, wir werden noch des Öfteren miteinander reden.«

      Horn ergänzte: »Ja, Herr Oberstleutnant, reden wir doch ganz privat. Sie sind in meiner Wohnung in der Kungsholmsgatan stets willkommen.«

      Ferne Hufe auf gefrorenem Boden, dann Wiehern, Schnauben, Knarren von Lederzeug, am Ende gedämpfte